Gegen den Strom von Hass und Hysterie im Netz wird Besonnenheit zur Bürgerpflicht, kommentiert Katja Bauer

Berlin - Das Fühlen gewinnt zurzeit. Es siegt über das Denken. Die Angst gewinnt über das Wissen, die Wut über die Analyse. Nüchtern betrachtet sind die Ereignisse des zurückliegenden Wochenendes eine Abfolge von schrecklichen Gewalttaten, deren Täter aus unterschiedlichen Motiven handelten. Gemein ist ihnen die zufällige Auswahl von Opfern mitten im öffentlichen Raum. Hierin liegt die Parallele zwischen Terror und Amoklauf, zwischen politisch und persönlich motiviertem Hass. Aber wo ist solch eine nüchterne Betrachtung geblieben?

 

Die Tage von Nizza, Würzburg, Reutlingen, Ansbach, sie wirken auch jenseits des Tatorts wie zerstörerisches Dauerfeuer: Aus Fernsehern, Rechnern, Smartphones ergießt sich ununterbrochen ein Stream aus Wörtern, Bildern, Videos. Wir erleben – in gewaltiger Dimension – das, womit die Informationsgesellschaft erstmals 1991 im Golfkrieg konfrontiert war: Peter Arnett von CNN auf einem Hoteldach in Bagdad, Infrarot-Livebilder vom Krieg mit einem Reporter in Deckung. Damals begann für Massenmedien die Nachrichtengewinnung vom Krisenherd in Echtzeit.

Heute, eine Generation später, bedeutet Massenmedium etwas vollkommen anderes: Das Internet demokratisiert den Gewinn von Wissen oder dem, was wir dafür halten. Kommunikationsplattformen wie Twitter oder Facebook haben zusammen mit mobiler Hardware eine allgegenwärtige Informationsumgebung geschaffen, einen riesigen, blubbernden Nachrichtenkessel. Hier mischt sich alles: Information, Gerücht, Interpretation, Kommentar, Propaganda. Terroristen, Regime können mit Falschinformationen die scheinbare Erkenntnislage manipulieren, Russland führt bereits einen Cyberkrieg.

Je schlimmer die Ereignisse , desto explosiver das Gemisch

Aber jenseits dieses Horrors mischen wir selber mit, und je schlimmer die Ereignisse sind, desto explosiver wird das Gemisch: Wir alle sind im Zweifel Peter Arnett, Kommentatoren oder Hetzer am Stammtisch. Und wer nicht schreibt, liest mit, wird getroffen von der schnellen Deutung, vom Hass der Gesinnungsmonster. Traditionelle Medien können sich der Geschwindigkeit der Maschine nicht entziehen, produzieren wie Getriebene Sondersendungen mit einem Informationsgehalt, der oft nicht den Namen verdient. Politiker erliegen dem Drang, auf den Strom der Äußerungen zu reagieren. Ein Beispiel: Die Forderung nach einem Verbot, Tatortvideos hochzuladen. Ein unrealistischer Vorschlag, ein leicht lösliches Surrogat anstelle substanzieller Politik.

Auch dagegen wächst der Überdruss, bis er wieder abgelöst wird vom nächsten Thema, der nächsten Aufregung. Ein Kreislauf. Es geht auch anders im Netz – das hat die Polizei in München gezeigt, das zeigt der Hashtag #offenetür, unter dem gestrandete Münchner einen Unterschlupf fanden.

Das Internet ist nicht schuld

Wir wissen es eigentlich: Das Internet ist nicht schuld – es ist das, was wir damit tun. Es ist ein undemokratischer, freiheitsverachtender Gedanke, diesen Teil des öffentlichen Raums und der darin stattfindenden Kommunikation mit eigenen Verboten über das hinaus regulieren zu wollen, was für jeden öffentlichen Raum gilt.

Was wir derzeit verloren haben, ist der Zugang zu einer alten zivilisatorischen Errungenschaft: Besonnenheit. Es fehlt der Mut zum Innehalten, zum Durchschnaufen im Wortgewitter. Wir müssen lernen, den Kopf herauszustrecken aus dem Dauerstrom, in dem es unmöglich ist, das richtige Gespür für Zusammenhänge zu entwickeln. Das gilt nicht nur online. Denn das Netz verstärkt und beschleunigt lediglich gefühlt ein Geschehen, das real ja existiert. Eine Routine des Ruhebewahrens werden wir auch für eine Wirklichkeit entwickeln müssen, zu der Gewalt und Terror gehören. Denn die Täter hätten gewonnen, wenn wir Opfer der Gefühle würden, die sie in uns auslösen wollen: on- und offline.