Gibt es eine Grenze zwischen dem Virtuellen und der Realität? Oder ist das Internet auch real? Ein Künstler verwischt die Grenzen, indem er Kennzeichen des Virtuellen in die Realität verfrachtet: so wie die roten Markierungen aus Google.
Stuttgart - Wenn uns plötzlich Figuren und Accessoires aus Computerspielen in der Fußgängerzone begegnen, reagieren wir irritiert. Doch wenn wir ganz selbstverständlich von unserem Smartphone aus twittern oder unsere sozialen Kontakte auf Facebook pflegen, verschwimmt die Grenze zwischen realer und virtueller Welt. Wobei sich die Frage, ob es überhaupt eine reale und eine virtuelle Welt gibt – und wenn ja, wo die eine aufhört und wo die andere beginnt –, nicht einfach beantworten lässt. Zumindest aber finden es die meisten ganz normal, wenn eine Internetseite sie indirekt fragt: „Bist du ein Mensch?“ Denn weil der Computer sich nie sicher sein kann, ob gerade ein Mensch oder eine Maschine mit ihm kommuniziert, werden Hürden eingebaut. Dazu zählen verzerrt dargestellte Buchstaben- und Zahlencodes, die von Menschen, aber nicht von Maschinen entziffert werden können. Nur wer diese sogenannten Captchas richtig abtippen kann, gilt als Mensch.
Mit dem Aufkommen eines neuen Mediums beginnt die Diskussion über das Für und Wider. Ob Buchdruck, Telefon, Radio, Fernsehen oder Internet – immer gab es Technik- und Fortschrittsbegeisterte auf der einen, Kulturpessimisten und Skeptiker auf der anderen Seite. Bei übermäßigem Fernsehkonsum oder nächtelangem Computerspielen bleiben Folgen für die Psyche nicht aus – ebenso wenig, wenn man vor dem Alltag durch ausuferndes Lesen in eine Gedanken- und Fantasiewelt flüchtet. Wie so oft im Leben entscheidet das richtige Maß darüber, ob die Mediennutzung noch als gesund einzustufen ist.
Was macht das Internet mit uns?
Mit dem Internet potenziert sich die Medienkritik in dem Maße, wie sich das Medium in alle erdenklichen Lebenssituationen ausbreitet. Vom Überall-Internet sind wir nicht mehr weit entfernt, vielleicht ist es sogar schon da. Nur an den Endgeräten wird noch gearbeitet. Längst besteht die Möglichkeit, dass der Kaffeevollautomat sich seine Software eigenständig über das Web aktualisiert. Konnte man sich vor zehn Jahren kaum eine Verwendung für Tablet-Computer vorstellen, wird man sich in zehn Jahren kaum noch vorstellen können, dass man seinen Alltag ohne einen Tablet-PC bewältigen kann.
Die Frage, was der Computer, das Internet, die sozialen Netzwerke oder Computerspiele mit uns anrichten, stellen sich nicht nur Soziologen, Medienanalytiker, Kulturwissenschaftler oder Psychologen, die zu diesem Thema den Büchermarkt fluten. Den aus Bremen stammenden und in Berlin lebenden Medienkünstler Aram Bartholl beschäftigt dieses Thema derart, dass es sich in fast allen seinen Arbeiten in irgendeiner Form wiederfindet.
So versucht er immer wieder herauszufinden, was das Internet mit uns anstellt und wie es sich auf unser Leben auswirkt. Mittlerweile kennt beispielsweise fast jeder Internetnutzer die Google-Markierung in Form eines großgeschriebenen „A“ in einer Art roten Sprechblase. Sie erscheint immer dann als Treffer, wenn man bei Google-Maps eine Adresse sucht. Bartholl stellt das überlebensgroße „A“ als Skulptur weltweit in Innenstädten auf.
Auch läuft Bartholl mit seinem Namen in großen Pappbuchstaben über dem Kopf schwebend durch die Fußgängerzonen von Großstädten. Wer sich ein bisschen mit Computerspielen auskennt, hat sofort ein Déjà-vu, weil er dies auf dem Bildschirm schon häufiger genau so gesehen hat. Der Betrachter ist irritiert. Aram Bartholl baut auch Waffen aus dem Computerspiel „World of Warcraft“ nach, weil er sie im Spiel als viel zu groß im Verhältnis zur Figur empfindet. Wenn er sich die Pappwaffe dann über die Schulter hängt und dabei ganz gewöhnliche Einkäufe tätigt, interessiert ihn vor allem die Reaktion der Passanten – und er lässt das Ganze filmen.
Die Google-Kamera ist aus Pappe, der Protest nur gespielt
Bartholl holt die virtuelle Welt in die reale und baut sie mit Papier, Schere und Klebstoff nach. Er will mit seinen Arbeiten mehr erreichen, als dass die Menschen zum Nachdenken über ihr Verhältnis zu digitalen Medien angeregt werden: „Mich interessiert immer auch der soziale Aspekt“, sagte er kürzlich im Rahmen seines Vortrages in der Stuttgarter Stadtbibliothek. In der Veranstaltungsreihe „Game Talks“ präsentierte Bartholl in Stuttgart zahlreiche seiner künstlerischen Arbeiten. Er zeigt Bilder und Videos von Menschen, die alle zusammen an einem Tisch sitzen, Buchstaben aufmalen, ausschneiden und auf eine Plastikschiene kleben: Bastelstunden für Erwachsene. In seinen Workshops oder Performances schafft er Begegnungen und soziale Kontakte im realen Leben – gemeinschaftliche Erlebnisse für Internetnutzer, aber außerhalb von Facebook.
Sehr publikums- und medienwirksam war auch seine Google-Car-Aktion in Berlin-Kreuzberg. Der zum Verwechseln ähnliche Aufsatz aus Pappe, mit dem normalerweise der Suchmaschinenkonzern Haus für Haus ablichtet, brachte manche Passanten so auf, dass sie ihre Hose im Vorbeigehen herunterließen, um dem vermeintlichen Google-Auto zu demonstrieren, was sie von der Ablichterei halten. Mit einer solch heftigen Reaktion hatte selbst der Künstler nicht gerechnet. Geplant und von Bartholl selbst inszeniert war hingegen das Hinterherrennen und Beschimpfen auf offener Straße. Eine Berliner Zeitung meldet am folgenden Tag: „Wütender Bürger rennt Google-Auto hinterher.“
Mit ganz ähnlichen Themen beschäftigen sich auch Kathrin Passig und Sascha Lobo in ihrem gemeinsamen Buch „Internet. Segen oder Fluch“. Eine Antwort liefern auch sie nicht, doch sie tragen in einem unterhaltsamen Ton zusammen, welche Argumente die Technikbefürworter und welche die Gegner in aller Regel vorbringen. Während der Lektüre dieses Buches muss man seine eigene Haltung stets überprüfen – und wird ebenso wie die Autoren zu dem Schluss kommen, dass man mit Schwarz-Weiß-Denken nicht weiterkommt. Denn Stammtischargumente wie „Facebook brauche ich nicht – die wollen doch nur meine Daten“ helfen ebenso wenig wie das Gegenargument, an Facebook komme man heute nicht mehr vorbei.
Auch früher wurde über die Beschleunigung geklagt
So beschreiben Passig und Lobo etwa in dem Kapitel „Mehr Demokratie wagen“, dass der Arabische Frühling als „Facebook-Revolution“ bezeichnet wurde. Und fragen sich sogleich in dem oftmals ironischen Ton, ob der Arabische Frühling nicht vielleicht aus genau dem gleichen Grund stattgefunden habe, wie schon Hunderte Revolten zuvor. Und so seien soziale Medien wie Twitter und Facebook in diesem Fall eben genutzt worden wie früher viele andere Kommunikationsinstrumente. Ob Flugblätter, Plakate, Mund-zu-Mund-Propaganda oder auf anderem Wege: „Den entscheidenden Part der Aufstände in Nordafrika spielten mutige Bürger, die auf Straßen protestierten, und nicht Pixel.“
Ein großer Gewinn sind die historischen Vergleiche, die sich durch das Buch ziehen. So werden Autoren zitiert wie Gustav Schmoller, der bereits im Jahr 1873 schrieb: „Immer schneller soll es gehen. Immer hastiger stürzt sich das junge Geschlecht in die Bahn des Lebens . . .“ Noch etwas früher, nämlich im Jahr 1868 hatte der New Yorker Geschäftsmann William E. Dodge in einer Rede beklagt, dass die Beschleunigung von Geschäftsvorgängen durch die Telegrafie kein reiner Segen sei. Ständig müsse man nun aktiv sein, mit fernen Geschäftspartnern korrespondieren und schon nach Wochen – so klagte er wirklich – über Liefervorgänge Bescheid wissen, von denen man früher monatelang nichts erfahren habe. „So wird er (also der Geschäftsmann) in ständiger Aufregung gehalten, ohne Zeit für Ruhe und Erholung.“