Der Ökonom Barry Eichengreen kritisiert die US-Wirtschafts- und Finanzpolitik und plädiert für Steuererhöhungen. Nur so könne der Staat seine Aufgaben erledigen, sagt Eichengreen im StZ-Interview.

Stuttgart – Der US-Ökonom Barry Eichengreen übt scharfe Kritik an der amerikanischen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Eichengreen plädiert für Steuererhöhungen, damit der US-Staat die Straßen reparieren, das Sozialsystem in Ordnung bringen und das Bildungssystem verbessern kann.
Herr Eichengreen, das Weltwirtschaftsforum in Davos diskutiert, wie es nach dem großen Schock weitergeht. Europa scheint auf dem Weg der Besserung. Besteht jetzt die Gefahr, dass die Krise erneut in den USA zuschlägt?
Ich kann nicht sehen, dass die zugrunde liegenden Probleme in Europa gelöst wären. Die geplante europaweite Aufsicht über die Banken funktioniert nicht, erschreckend viele Europäer haben keine Arbeit, und das demokratische Defizit der EU wird auch nicht kleiner. Das sind nur einige der offenen Baustellen. Aber Sie haben recht: Euroland wird wohl nicht auseinanderbrechen. Immerhin diese Gefahr wurde gebannt. Insofern ist die Krise in eine ruhigere Phase getreten. Ich mache mir aber Sorgen, dass nun eine lange Periode der Wachstumsschwäche folgen könnte, wie wir sie seit 20 Jahren in Japan beobachten.

Die Eurostaaten gehen die Probleme der Staatsverschuldung und mangelnden Zusammenarbeit immerhin an – was man über die verfeindeten Parteien in Washington nicht sagen kann.
Tatsächlich tut die US-Politik alles, um die Probleme zu verschärfen. Man kann schon verzweifeln über die Unfähigkeit, Lösungen umzusetzen, die eigentlich auf der Hand liegen. Wir sind nicht in der Lage, unser Sozialsystem in Ordnung zu bringen, die Schulen zu verbessern und die Straßen zu reparieren. Wir müssten einfach mehr Steuern zahlen, damit der Staat seine Aufgaben erfüllen kann. Tun wir das nicht, sehe ich die Gefahr von ebenso unausweichlicher wie undifferenzierter Sparpolitik und einer nachfolgenden Rezession.

Die Summe der amerikanischen Staatsschulden entspricht der Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres. Jeder dritte Dollar, den Ihre Regierung ausgibt, ist geliehen. Ist es da nicht an der Zeit, die Schuldenaufnahme endlich zu senken?
Ja, aber bitte langsam und überlegt. Das ist auch eines der großen Themen hier in Davos. Es hat keinen Sinn, die Staatshaushalte überhastet sanieren zu wollen. Im Gegenteil: das kann sehr gefährlich sein, weil es das Wachstum abwürgt, Arbeitsplätze kostet und die Staatsfinanzen weiter verschlechtert. In den USA wie auch in Europa brauchen wir eine Strategie für die mittlere Frist. Es muss der Wirtschaft gut gehen, damit die Staaten ihre Schulden reduzieren können.

In Ihrem Buch „Exorbitant Privilege“ sagten Sie voraus, dass der US-Dollar seine Rolle als Weltwährung allmählich einbüßt und ihm andere Währungen den Rang ablaufen. Ist das auch heute Ihre Position, oder hat Sie die Eurokrise eines Besseren belehrt?
Was den Euro betrifft, war ich zunächst wohl etwas zu optimistisch. Trotzdem bin ich weiterhin überzeugt, dass der Euro mit der Zeit ein immer stärkerer Rivale des Dollar werden wird, ebenso wie die chinesische Währung Renminbi.

Warum wird der Euro international eine größere Bedeutung bekommen?
Wenn wir davon ausgehen, dass der internationale Handel weiter wächst, braucht die Welt größere Mengen sicherer, leicht einlösbarer Wertpapiere, in denen beispielsweise Gewinne angelegt werden können. Diese Funktion erfüllten bisher zu einem guten Teil amerikanische Staatspapiere. Jedoch nimmt der Anteil der Vereinigten Staaten am globalen Handel ab. Heute beträgt er noch etwa 20 Prozent, in einigen Jahren könnte er bei nur 15 Prozent liegen. Damit wird auch die Bedeutung von US-Papieren auf den internationalen Finanzmärkten abnehmen. Die Schweiz oder Norwegen sind zu klein, um in die Lücke zu stoßen. Das können nur die EU und China, später vielleicht noch andere Staaten wie Indien oder Brasilien.

Heute tragen die 27 Länder der EU etwa 20 Prozent zum Welthandel bei. Aber sinkt ihre Leistung im Verhältnis zu den aufstrebenden Ländern nicht ebenfalls?
Trotzdem kann der Euro den Dollar teilweise ersetzen. Der Markt für Euroanleihen ist groß genug. Außerdem macht Europa Fortschritte, indem man den Anlegern zunehmend gemeinsame Papiere anbietet. Kürzlich hat erstmals der Stabilisierungsfonds ESM Anleihen veräußert, die die Investoren zu sehr niedrigen Zinsen kauften – ein positives Zeichen für den Euro.

Während das Wachstum in Schwellenländern wie China teilweise an die zehn Prozent jährlich heranreicht, müssen sich die alten Industriestaaten mit ein oder zwei Prozent begnügen. Gerät das westliche Wohlstandsmodell allmählich an seine Grenzen?
Vor verallgemeinernden Aussagen möchte ich warnen. Die Gründe für geringeres Wachstum sind jeweils unterschiedlich. In Europa spielt die Demografie eine Rolle – der Anteil der jungen, konsumfreudigen und innovativen Menschen an der Bevölkerung nimmt ab. In den USA ist es eher die schlechte Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Eine Lehre aus der Finanzkrise könnte lauten, dass die entwickelten Volkswirtschaften höhere Wachstumsraten nur noch schaffen, wenn sie gefährliche Risiken eingehen.
Ich glaube nicht, dass es so ist. Während der vergangenen 50 Jahre gelang es den westlichen Demokratien doch meist, anhaltendes Wachstum zu generieren, ohne dass es dauernd zu solchen Verwerfungen wie der Finanzkrise kam.

In Ihrem neuen Buch „Die Weltwirtschaft nach der globalen Krise“ diskutieren Sie und Ihre Kollegen den Begriff der „großen Stagnation“. Was ist mit diesem Begriff gemeint?
Manche Ökonomen weisen darauf hin, dass das Wachstum in den entwickelten Staaten insgesamt abnimmt. Sie machen sich Gedanken darüber, ob das Zeitalter der großen Innovationen vorbei ist.

Nach dem Motto: In den vergangenen 200 Jahren wurden die Dampfmaschine, die Elektrizität, der Verbrennungsmotor und weitere epochale Erfindungen gemacht – doch jetzt fällt uns nichts mehr radikal Neues ein, das zusätzlichen Wohlstand schaffen kann?
Ich habe da weniger Sorgen. Ein Argument gegen die wachstumsskeptische These lautet beispielsweise, dass Computer und Internet ähnlich bahnbrechende Innovationen darstellen wie die Eisenbahn im 19. Jahrhundert.