Interview "Er hat meine Seele getötet"

Norbert Denef leidet heute noch unter den Spätfolgen des sexuellen Missbrauchs durch einen katholischen Priester.
Herr Denef, Sie konnten erst 35 Jahre nach Ihrem sexuellen Missbrauch öffentlich darüber sprechen. Wundert es Sie, dass der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin ehemalige Schüler erst jetzt über Missbrauchsfälle aus den Siebziger Jahren informiert hat?
Nein, dieses Schema ist typisch. Erst versucht man, die Fälle zu verschweigen. Man geht erst nach draußen, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Dann tut man so, als wäre man um Aufklärung bemüht.
Immerhin ist die Kirche von selbst an die Öffentlichkeit getreten. Ein mutiger Schritt?
Nein, mutig war, dass die Opfer schon vor Jahren versucht haben, etwas zu bewegen. Ich verstehe nicht, warum die Schulleitung erst jetzt darauf reagiert hat.
Es heißt, die Opfer hätten um Diskretion gebeten.
Das ist doch Theater. Erst reagiert man nicht. Dann schiebt man die Schuld auch noch den Opfern zu. So versucht man sich rein zu waschen.
Sie unterstellen den Verantwortlichen, sie hätten auf Zeit gespielt?
Ja, die Verjährungsfrist für eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs läuft nach zehn Jahren ab. Die Opfer können jetzt zivilrechtlich keine Ansprüche mehr erheben.
Warum haben Sie selber 35 Jahre gewartet, bevor sie den Pfarrer mit seinen Taten konfrontiert haben?
Wer so etwas erlebt hat, spaltet die Erinnerung ab, um nicht jedes Mal wieder den Schmerz erleben zu müssen, der damit verbunden ist. Hirnforscher können diesen Prozess sogar neurochemisch erklären: Es fehlen bestimmte Verbindungen im Hirn, die lösen dieses Schweigen aus.
Was geht in einem Kind vor, wenn der Pfarrer nach dem Gottesdienst in seinem Büro plötzlich zudringlich wird?
Ich erinnere mich daran, dass ich als Zehnjähriger auf seinem Sofa lag und seinen Schwanz im Mund hatte. In der Seitenwand des Schreibtisches nebenan war ein Loch. Darin habe ich mit meinen kleinen Fingern herumgebohrt, so lange, bis die Scheiße vorbei war. Es klingt merkwürdig, aber dieses Loch hat mir geholfen, den Missbrauch auszublenden.
Ein Pfarrer gilt als Autorität, vielleicht sogar als Vertrauter eines Kindes ...
... der ist gottgleich, mit dem Papst als Chef. Sehen Sie, meine Mutter war alleinerziehend, fünf Kinder. Ich wurde gezeugt, um die Ehe meiner Eltern zu retten. Die Kirche stand immer an erster Stelle. Ich war für diesen Pfarrer ein dankbares Opfer.
Wenn Sie den Missbrauch damals angezeigt hätten, hätte Ihnen Ihre Mutter geglaubt?
Nein, meine Familie grenzt mich ja heute noch aus, seit ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen bin. Der Organist, einer der Täter, stammt aus dem Umfeld meiner Familie. Das macht die Sache kompliziert.
Ihre Brüder waren auch Ministranten. Wurden die ebenfalls missbraucht?
Ich gehe davon aus, dass mehr als 130 Kinder missbraucht wurden. Die meisten schaffen es nicht, sich mit ihrem Leid auseinander zu setzen. Stattdessen stempeln sie mich als Netzbeschmutzer ab. Deswegen empfinde ich es als Wunder, dass sich gleich zwanzig ehemalige Opfer des Canisius-Kollegs gemeldet haben.
Im Schutz der katholischen Kirche müssen die Täter offenbar nicht einmal strafrechtliche Konsequenzen befürchten. Oder sind sie in Ihrem Fall verurteilt worden?
Nein, der Priester wurde einige Male strafversetzt. Der Organist wurde prunkvoll in den Ruhestand verabschiedet. Er genießt nach wie vor hohes Ansehen.
Haben sie ihre Taten wenigstens bereut?
Nein, der Priester war sich keiner Schuld bewusst. Als ich ihn zur Rede gestellt habe, hat er gesagt, das sei doch alles nicht so schlimm gewesen. Der Organist sagte: "Die Frage ist doch, wer angefangen hat." Er ist zehn Jahre älter als ich.
Ärzte haben Ihnen attestiert, dass Sie zu 60 Prozent schwerbeschädigt sind. Was hat der Missbrauch mit Ihnen angerichtet?
Er hat meine Seele getötet. Nach außen hin habe ich bis zum 40. Geburtstag unauffällig gelebt. Ich habe geheiratet und zwei Kinder gezeugt. Ich war technischer Leiter an einem Theater, süchtig nach Arbeit. Aber innerlich fühlte ich nichts. Ich muss noch heute in kochend heißem Wasser baden, um mich zu spüren.
Nun sind Sie seit einem Jahr arbeitsunfähig. Mit welcher Diagnose wurden Sie krank geschrieben?
Posttraumatische Belastungsstörung. Ich leide unter Panikattacken und Albträumen. Der Gedanke an Selbstmord ist mein ständiger Begleiter.
Das Bistum Magdeburg hat Ihnen 25.000 Euro Entschädigung gezahlt. Wie haben Sie das erreicht?
Indem ich dafür gesorgt habe, dass mir beide Täter ihr Geständnis schriftlich gegeben haben. Ich hatte das Glück, dass mir ein ranghoher Mitarbeiter der Kirche Einblick in die Personalakten gegeben hat. Damit konnte ich das Bistum Magdeburg unter Druck setzen. In den Akten stand, dass meine Geschichte kein Einzelfall war.
Die Entschädigung haben Sie unter der Bedingung bekommen, dass Sie öffentlich schweigen. Wie hat die Kirche reagiert, als Ihr Buch erschienen ist?
Gar nicht. Allerdings hatte ich nach zähem Ringen erreicht, dass sie die Schweigeklausel vorher zurückgenommen hat.
Sie kämpfen jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dafür, dass die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch abgeschafft wird. Der Bundestag hat eine entsprechende Petition 2008 schon abgelehnt. Mit welcher Begründung?
Verjährungsfristen seien zur Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit unabdingbar.
Glauben Sie, dass die Diskussion um den Skandal am Canisius-Kolleg zu einer Neubewertung Ihrer Petition führen könnte?
Ich hoffe es. Dieser Skandal hat mir die Tür zu den Medien geöffnet. Dafür habe ich jahrelang gekämpft.
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