Sechs Covid-19-Tote in zwei Wochen: Sindelfingen ist ein Corona-Hotspot. Der Oberbürgermeister Bernd Vöhringer schildert im Interview, wie die Verwaltung versucht, die Krise zu meistern – und wie die Bürger dabei mitziehen.

Sindelfingen - Seit acht Monaten arbeiten die Stadtverwaltungen im Dauerkrisenmodus. In Sindelfingen hat die Pandemie auch führende Mitarbeiter getroffen. Der Oberbürgermeister Bernd Vöhringer hält als Einziger des Führungstrios bislang die Stellung – und erzählt aus dem Alltag.

 

Herr Vöhringer, wie unterscheidet sich die aktuelle Corona-Situation in Sindelfingen von der im Frühjahr?

Es ist deutlich schlimmer als im Frühjahr. Wir haben mehr Infizierte in der Stadt. Und wir wissen von vielen nicht, wo sie sich angesteckt haben. Das Virus hat auch wieder die älteren Generationen erreicht. In den vergangenen Tagen hatten wir in Sindelfingen sechs Tote wegen des Virus zu beklagen, nachdem monatelang niemand daran verstorben war. Die Situation ist sehr angespannt. Ich hoffe sehr, dass der Lockdown light wirkt.

Viele bezweifeln das.

Auch wir haben die Sorge, dass die Maßnahmen nicht ausreichen, wir verschärfen müssen, vielleicht auch auf lokaler Ebene nachjustieren.

An was denken Sie da?

Eine Überlegung ist, die Sporthallen zu schließen, auch für den Schulsport. Es ist den Schülern nicht vermittelbar, warum sie im Klassenzimmer den ganzen Tag mit Maske sitzen müssen, um dann anschließend in einer Drittel-Sporthalle gemeinsam Sport zu machen.

Da gibt es noch andere Beispiele. Den öffentlichen Nahverkehr zum Beispiel, das Gedränge im Bus. Aber auch die Schulen selbst. Was tut die Stadt als Schulträger für die Lüftung?

Wir haben eine Abfrage in den Schulen gemacht. Dabei ist herausgekommen, dass es einige Klassenräume gibt, in denen sich aus Sicherheitsgründen die Fenster nicht richtig öffnen lassen. Da rüsten wir jetzt nach.

Ist das nicht spät? Warum wurde das nicht in den Sommerferien erledigt?

Wir wussten ja lange nicht, wie die Landespolitik den weiteren Kurs bestimmt. Unser Fokus lag vor allem darauf, die Digitalisierung der Schulen voranzubringen.

Wie beeinflusst die Pandemie die Arbeit der Stadtverwaltung?

Sehr stark. Unser Krisenstab tagt mindestens dreimal in der Woche, bei Bedarf auch am Wochenende. Viele unserer Mitarbeiter sind ins Krisenmanagement eingebunden. So machen wir hier in Sindelfingen die Kontaktnachverfolgung komplett allein. Dafür gibt es ein Team von zwölf Mitarbeitern, das jetzt noch einmal aufgestockt wird. Die leisten unglaublich engagierte Arbeit, oft bis in die Nacht hinein. Wir führen jetzt einen Zwei-Schicht-Betrieb ein. Und anders als beim ersten Lockdown läuft jetzt der normale Betrieb in der Verwaltung nebenher. Das ist eine enorme Doppelbelastung.

Corona macht auch vor den Mitarbeitern nicht halt. Aktuell ist die Baubürgermeisterin Corinna Clemens infiziert, Finanzbürgermeister Christian Gangl war zweimal in Quarantäne.

Ja, das belastet unsere Arbeit zusätzlich. Wir haben immer wieder Ausfälle, weil Mitarbeiter erkranken oder in Quarantäne müssen. Aktuell sind es im Rathaus neun Personen. Wir versuchen da gegenzusteuern: durch die Möglichkeit zum Homeoffice, durch flexible Arbeitszeiten und durch viele Videokonferenzen statt persönlicher Treffen.

Wie wirkt sich die Pandemie auf die städtischen Finanzen aus?

Die Kosten bis zum Sommer haben wir mit etwa zehn Millionen Euro beziffert: durch Gebührenausfälle, Steuerausfälle und zusätzliche Ausgaben. Wir erhalten zwar 26 Millionen Euro aus dem Rettungsschirm, müssen dafür aber wiederum höhere Umlagen zahlen. So verbleiben uns rund drei Millionen Euro.

Wie viel Protest erreicht Sie?

Erstaunlich wenig. Vielmehr gibt es Zuspruch in Form von: Wir tragen das mit. Auch von vielen Gastronomen. Uns erreichen weniger Beschwerden als beim ersten Lockdown im März. Das liegt sicher auch daran, dass es jetzt klare Zusagen zur Unterstützung durch Bund und Land gibt.

Sie halten die Maßnahmen wie Schließung der Restaurants für richtig? Einige Ihrer Oberbürgermeisterkollegen aus dem Land haben sich in einem Brief dagegen gewehrt. Sie waren nicht dabei.

Die jetzt getroffenen Maßnahmen des Lockdowns light sind ein politischer Kompromiss. Ich halte es nicht für zielführend, wenn eine solche Entscheidung dann öffentlich zwischen den Verwaltungsebenen zerredet wird. Zumal dieser Brief ja erst kam, nachdem alles beschlossen war. Da war keine Veränderung mehr zu erwarten, und es verunsichert die Menschen zusätzlich, wenn die Verwaltungen sich streiten.

Aber haben Sie Verständnis dafür, dass manche Bürger unzufrieden sind mit dem neuen Lockdown light?

Ja, das habe ich. Auch der Lockdown light tut manchen richtig weh. Aber egal, für welchen Bereich man sich zur Schließung entschieden hätte, jede Gruppe hätte aufgeschrien. Fakt ist: Wir wissen bundesweit bei 70 Prozent aller Infektionen nicht, wo sich die Leute angesteckt haben, in Sindelfingen sind es 55 Prozent. Das heißt, wir können keinen Bereich ausschließen. Und die Bildung hat nun mal oberste Priorität. Wir sind aber auch unterwegs und werben um Verständnis. Letzte Woche war ich mit Rainer Just vom Krisenstab beim Skaterpark. Wir haben mit den jungen Leuten geredet und festgestellt: Die kennen die Regeln und scheinen sich daran zu halten. Das ist wichtig, denn wir wollen bewusst Spiel- und Sportplätze – soweit es die Situation zulässt – offen halten. Die Bürger sollen die Möglichkeit haben, sich draußen zu bewegen und zu begegnen.

In anderen Städten gibt es andere Ideen zur Bekämpfung der Pandemie, Beispiel Tübingen: Dort sollen die Senioren geschützt werden mit bestimmten Einkaufszeiten und dem Vermeiden des öffentlichen Nahverkehrs. Wäre das auch ein Ansatz für Sindelfingen?

Grundsätzlich halten wir es für wichtig, Risikogruppen zu schützen. Allerdings dürfen wir die ältere Generation nicht aus unserer Gesellschaft ausschließen. Viele Senioren haben bereits vor der Pandemie unter Einsamkeit gelitten. Wenn wir sie nun gezielt isolieren, um so dem Rest der Gesellschaft schneller wieder mehr Freiheiten zu ermöglichen, kann das aus meiner Sicht keine Lösung sein. Wir müssen alle gemeinschaftlich die Last der Pandemie tragen und gemeinsam bewältigen.

Aber es macht sich eine Corona-Müdigkeit breit. Im März sagten Sie, dass Ihr großes Ziel sei, den Weihnachtsmarkt zu eröffnen, nun ist er abgesagt. Welche Perspektive können Sie geben? Werden wir das Straßenfest feiern?

Ich tue mich schwer damit, eine Prognose abzugeben. Es wird im Sommer sicher einige Festivitäten geben. Aber ob ein Fest in der Größe des Straßenfests möglich ist, daran habe ich Zweifel. Vielleicht aber finden wir ja ein neues Format. Ich verstehe alle, die Corona-müde werden. Aber ich erlebe trotzdem gerade in Sindelfingen eine große Solidarität, die in den vergangenen Jahren durch das Stadtjubiläum und die Biennalen gewachsen ist und sich jetzt bewährt: in Aktionen wie Helfen statt Hamstern, bei der Gesunde Einkaufshilfe für Risikogruppen leisten. Was uns wichtig ist: Wir wollen trotz Corona unsere breite Vereinsstruktur in der Stadt erhalten. Deshalb unterstützen wir die Vereine unbürokratisch.