Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig spricht im StZ-Interview darüber, dass er weitere tödliche Angriffe auf die Isaf-Soldaten in Afghanistan befürchtet.
09.05.2013 - 09:15 Uhr
Stuttgart – Der Westen sieht am Hindukusch meist nur den Konflikt der Karsai-Regierung plus internationaler Schutztruppe Isaf gegen die Taliban. Das ist ein Fehler, sagt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Die Situation sei vielschichtiger und komplizierter. Und der Krieg sei noch lange nicht vorbei.
Herr Ruttig, seit langer Zeit ist am Wochenende in Afghanistan wieder ein deutscher Soldat gefallen. Müssen wir uns auf noch mehr Verluste einstellen?
Ich fürchte, wahrscheinlich schon. Der Krieg ist noch nicht vorbei und bewegt sich nach wie vor auf einem hohen Gewaltniveau. Mit dem Näherrücken des Termins 2014, wenn der Nato-Kampfeinsatz zu Ende gehen soll, ist damit zu rechnen, dass die Taliban versuchen werden, die Grenzen weiter auszutesten.
Wie hat sich die Gewalt vor Ort in letzter Zeit verändert?
Seit 2002 sehen wir einen Anstieg von sicherheitsrelevanten Vorfällen. Der Peak war 2011. Anfang des Jahres musste Isaf seine Statistik korrigieren, zehn Prozent der sicherheitsrelevanten Vorfälle waren nicht gemeldet worden. Seither veröffentlicht Isaf seine Daten gar nicht mehr selbst, sondern überlässt das nun afghanischen Stellen. Im Moment sehen wir wieder einen starken Anstieg und dass die Taliban vor allem in der Peripherie versuchen, die Stärke der afghanischen Streitkräfte und der Isaf-Unterstützung für sie auszutesten.
Was genau versteht man unter sicherheitsrelevanten Vorfällen?
Das sind Angriffe der Aufständischen gegen afghanische und ausländische Truppen und gegen die Regierung
Nur Angriffe der Taliban?
Wer im Einzelfall hinter all den Zwischenfällen steckt, weiß man nicht immer. Sehr viel wird den Taliban angelastet, obwohl sie es nicht waren. Nach wie vor treiben viele halb reguläre und irreguläre bewaffnete Gruppen ihr Unwesen. Gerade in Baghlan ist die Konfliktlage so kompliziert, dass man das nicht auf den Konflikt Karsai-Regierung plus Isaf gegen Taliban reduzieren kann.
Wo laufen die Konfliktlinien?
Neben dem, was von uns als Hauptkonflikt wahrgenommen wird, gibt es Konflikte zwischen unterschiedlichen Aufständischen, zum Beispiel zwischen den Taliban und Hezbe Islami von Gulbuddin Hekmatyar, die sich regelmäßig bekämpfen. Gerade in der Gegend, wo nun der deutsche Soldat gestorben ist. Die Unterlegenen wenden sich dann oft an die Regierung, schließen sich dem Friedensprogramm an und können dann in angeblich regierungstreuen Milizen landen, wie der Afghan local police (ALP).
Das klingt unübersichtlich.
Das ist noch nicht alles. Es gibt auch noch Streitigkeiten zwischen verschiedenen Mudschaheddin-Fraktionen aus den 80er Jahren, die im ständigen Ringen um Einfluss gefangen sind und ihre Netzwerke in den afghanischen Sicherheitskräften haben, bei der regulären Polizei, der ALP, dem Geheimdienst, der Armee und anderen. Und man hat noch die alten Streitigkeiten der Stämme um Land oder Verbrechen, die mal vor Jahren verübt worden sind und noch gerächt werden müssen.
Kämpfen diese Gruppen nur gegeneinander – oder auch gegen die internationalen Soldaten?
Vor allem gegeneinander. Aber es hat durchaus Fälle gegeben, bei denen ausländische Soldaten ungewollt mitten in solche Konflikte hineingezogen worden sind. Da gibt es zum Beispiel Landkonflikte, die politisiert werden. Ein Stamm – oder eine Gruppe – hat illegal Land okkupiert und ist mit einer der Fraktionen verbündet, ganz egal ob Mudschaheddin, Taliban oder Isaf. Der andere Stamm schließt sich einer anderen Seite an. Schnell ist man als Isaf-Soldat in einen Konflikt involviert, den man gar nicht versteht. Und da die Leute alle bis zu den Zähnen bewaffnet sind, werden Konflikte auch mit Waffen gelöst.
Werden all diese Waffen nun noch einmal bewusst genutzt, um in die abziehenden internationalen Truppen hineinzufeuern?
Das halte ich nicht für ausgeschlossen, und zwar von allen Seiten. Die Sowjets hatten in den 1980ern ein Abkommen mit den Mudschaheddin, dass man sie abziehen lässt. Solch ein Abkommen hat man heute mit den Taliban nicht.