Russlands Angriffskrieg taucht die Politik der Altkanzlerin in neues Licht. Nun hat sie sich erstmals dazu befragen lassen – und interessante Antworten gegeben.

Direkt nach dem Ausscheiden aus dem Amt ist sie für fünf Wochen an die Ostsee gefahren, hat die Welt der Hörbücher für sich entdeckt und dicke Wälzer gelesen, Shakespeares „MacBeth“ etwa und Schillers „Don Carlos“. Vorab war sich Angela Merkel gar nicht sicher, ob sie die Zeit ohne Termine würde genießen können, und merkte dann, „dass ich mit dem neuen Lebensabschnitt zurechtkomme und glücklich sein kann“.

 

Nun ist sie auf die politische Bühne zurückgekehrt – ihr ist nur noch nicht klar in welcher Rolle. „Was ist eine Bundeskanzlerin a.D“, fragt die Erste dieser Art sogar im Verlauf eines Gesprächsabends im Berliner Ensemble, ihrem ersten großen Auftritt in dieser Funktion, fast auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft.

Nur noch „Wohlfühltermine“

Stellvertretend für halb Deutschland, das sich fragt, ob die eigene Politik den russischen Angriff auf die Ukraine begünstigt hat und warum die Republik energiepolitisch und militärisch so schlecht gewappnet ist für den Krieg und seine Folgen, obliegt es „Spiegel“-Reporter Alexander Osang, jene Punkte anzusprechen, die ihre Kanzlerschaft in anderes Licht tauchen. Das Publikum erfährt, dass auch Merkel sich damit quält: „Was hat man versäumt?“ fragte sie sich bei Kriegsbeginn: „Was hätte man noch tun können?“

Die frühere Kanzlerin bleibt sich in dem Sinne treu, dass sie anders als Steinmeier keine großen Irrtümer einräumt, sondern ihre damalige Politik erklärt. Sie nimmt zwar für sich in Anspruch, „jetzt nur noch Wohlfühltermine“ machen zu können, akzeptiert aber zugleich, dass sie in gewisser Weise immer noch ihrem Land dienen muss: „Vieles hat eine Vorgeschichte“, sagt Merkel, „für vieles bin ich noch mitverantwortlich.“

Die Bundeswehr? Die sei in ihrer Amtszeit keineswegs „verlottert“, wie der Fragesteller suggeriert, stattdessen habe man die vorübergehenden Etatkürzungen rückgängig gemacht – und auch alle von ihr befragten Generäle hätten in High-Tech-Zeiten die Schaffung einer Berufsarmee befürwortet. Den „Nachholbedarf“ gebe es jetzt auch, weil der Koalitionspartner SPD das Zwei-Prozent-Ziel der Nato nicht unterstützt habe: „Da müssen sich alle an die Nase fassen.“

Ärger über US-Sanktionen wegen Nord Stream 2

Zentral freilich ist die Frage, die der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk dem Journalisten Osang mit auf den Weg gegeben hat: Hat Merkels Appeasement den Krieg erst ermöglicht. Die Exkanzlerin weist das von sich, erklärt, warum sie beim Nato-Gipfel 2008 gegen die Aufnahme des Landes war, das damals noch von Oligarchen beherrscht gewesen sei. Auch das nun geschmähte Minsker Abkommen habe bei allen Mängeln der Ukraine „ein Stück Ruhe“ und „Zeit verschafft“, sich zu einem Land zu entwickeln, dass sich heute geschlossen wehren könne. Und über Amerikas Sanktionen gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 habe sie sich zwar „sehr geärgert“, aber dem US-Präsidenten Joe Biden vergangenen Sommer trotzdem zugesagt, sie zu stoppen, wenn sie zur Waffe werde.

Der Satz, sich in Präsident Wladimir Putin getäuscht zu haben, kommt Merkel nicht über die Lippen. Stattdessen berichtet sie, wie er ihr schon 2007 beim „Besuch mit dem Hund“ erläutert habe, warum der Untergang der Sowjetunion für ihn die größte Katastrophe gewesen sei, der für sie „der Glücksumstand meines Lebens“ war. Dieser „Dissens“ sei nie aufgelöst, der Kalte Krieg nie wirklich beendet, eine Sicherheitsarchitektur, die den neuen verhindert hatte, nie geschaffen worden.

Dass ihr letzter Anlauf in die Hose ging, hängt Merkel noch nach. Als sie vor einem Jahr dem Europäischen Rat einen EU-Russland-Gipfel vorschlug, folgte ihr die Brüsseler Runde nicht. „Jeder weiß, dass Du bald weg bist“, so ihre Erinnerung an den schleichenden Machtverlust: „Ein paar Jahre zuvor hätte ich das vielleicht noch durchgedrückt.“

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