Krankenhäuser müssten sich weiter spezialisieren, sagt der Chef der AOK Baden-Württemberg, Christopher Hermann. Bei der Qualitätssicherung sei die große Koalition auf dem richtigen Weg. Die Landesregierung hingegen kritisiert er scharf.

Stuttgart - Im Wettbewerb der Kassen werde es künftig um gute Versorgung und weniger ums Geld gehen, sagt Christopher Hermann voraus. Die große Koalition stelle die Weichen richtig, meint der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg. Die Landesregierung kritisiert er heftig.
Herr Hermann, die große Koalition will einige Ihrer Forderungen – etwa mehr Beitragsautonomie – erfüllen. War der Koalitionsvertrag eine vorweihnachtliche Bescherung?
So positiv würde ich es nicht ausdrücken. Eine Reihe von Verabredungen gehen aber in die richtige Richtung. Wir können mit dieser Koalitionsvereinbarung gut leben.
Experten erwarten freilich, dass für die Arbeitnehmer bald die Beiträge steigen. Wie teuer wird es für die Kunden der AOK?
Das kann heute seriös niemand sagen, weil die Details der geplanten Regelungen völlig unklar sind. Bisher haben wir nur Überschriften. Man will künftig den Zusatzbeitrag prozentual erheben. Das hört sich einfach an, geht auch, ist aber kompliziert. Eine Abwicklung ist nur über den von uns nicht gerade geliebten Gesundheitsfonds möglich. Wie das konkret läuft, wird zu diskutieren sein.
Vom heute einheitlichen Beitragssatz von 15,5 Prozent zahlt der Versicherte 0,9 Prozent alleine – quasi als Zusatzbeitrag. Wird es bei Ihnen bei diesen 0,9 Prozent bleiben?
Das ist offen. Die AOK wird jedenfalls hier genau kalkulieren. Klar ist freilich, keine Kasse wird auf Sicht mit den 14,6 Prozent auskommen. Darüber hinaus müssen sie einen Zusatzbeitrag erheben. Der orientiert sich jedoch nicht am individuellen Einkommen der jeweils in der betreffenden Kasse Versicherten, sondern am Durchschnittseinkommen aller in Deutschland gesetzlich Versicherten.  Diesen Wert muss man erst kennen und damit rechnen. Das ist die Logik eines Systems, das zu Recht vermeiden will, dass sich Kassen die Gutverdiener herauspicken.
Kommt es beim Zusatzbeitrag zu einem Unterbietungswettbewerb der Kassen?
Nein. Es macht für eine Kasse nämlich keinen Sinn, die momentan vielleicht hohen Rücklagen zunächst dazu zu benutzen, den Zusatzbeiträge künstlich niedrig zu halten. Das kriegt sie nur einmal und kurzfristig hin. Es wäre töricht, sich so die Handlungsspielräume einzuengen. Ich erwarte für alle Kassen ähnliche Beiträge – insgesamt etwa zwischen 15,3 und 15,6 Prozent. Diese Unterschiede sind für die Versicherten nicht wichtig.
Das heißt, es gibt Beitragsstabilität?
Dadurch, dass die absoluten Beträge – als Belastung oder als Prämie – verschwinden, kommen wir hin zu einem Wettbewerb, in dem es nicht mehr um ein paar Euro geht, sondern um bessere Qualität in der Versorgung, besseren Service und gute Prävention. Das freut uns.
Die Prognosen über Mehrbelastungen sind nur Kaffeesatzleserei?
Einerseits ist das Kaffeesatzleserei. Andererseits geht die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen auseinander. 2016 werden wir so aller Voraussicht nach in der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland eine finanzielle Lücke von 10 Milliarden Euro haben.
Die Koalition will mehr Qualität in der Behandlung, gute Arbeit soll besser, mangelhafte schlechter bezahlt werden. Wie lässt sich das realisieren?
Hier stimmt der neue Kurs ebenfalls, auch wenn ich nicht verstehe, warum man für schlechte Behandlung überhaupt etwas bezahlen soll. Umsetzen ließe sich das Prinzip heute schon. Die AOK etwa weiß bereits um die Qualität von planbaren Eingriffen in bestimmten Kliniken. Wiedereinweisungsquoten, Zahlen über Komplikationen oder nötige Erneuerungen von künstlichen Hüftgelenken geben Auskunft darüber. Unser Datensatz dazu ist „unendlich“. Die Koalition muss nun darauf achten, dass sich die Vergütung künftig nach solch fundierten Qualitätsindikatoren richtet. Eine derartige Umstellung wird allerdings einige Zeit dauern und sie ist durch eine Mindestmengenregelung zu ergänzen.
Das heißt, Kliniken müssen eine bestimmte Zahl von definierten Eingriffen erreichen, um operieren zu dürfen?
Ja, in Baden-Württemberg konnte zum Beispiel bei der Frühchenversorgung eine solche Regelung nicht rechtssicher umgesetzt werden. Das hat die Folge, dass es hier mehr als 20 Einheiten gibt, die sich um wenige hundert Frühchen im Jahr streiten und hoch gerüstet darauf warten, solchen Kindern auf die Welt zu helfen. So wird im System massiv Geld verschleudert.
Sie sind also für weitere Konzentration und Spezialisierung der Kliniken. Müssen Patienten dann unter weiten Wegen leiden?
Für bessere Qualität fährt man, wenn es um die eigene Gesundheit geht, gerne ein paar Kilometer mehr. Das ist nicht das Thema. Das Thema ist, dass ein möglichst hohes Niveau der Versorgung allen zugute kommt. Spezialisierung ist das Maß der Dinge bei der unglaublichen Vielfalt der heutigen Medizin.
Fast jede Klinikschließung löst einen Aufstand aus. Wie weite Wege sind zumutbar?
Meistens protestieren die Menschen, die nie zu einem planbaren Eingriff in diese Klinik gehen würden. Für solche Operationen suchen die Patienten nämlich heute schon die passende Einrichtung. Warum soll man nicht 100 Kilometer fahren, um sich eine Herzklappe qualitätsoptimal einsetzen zu lassen? Spannender ist, wie jemand im Notfall sofort eine gute Versorgung bekommt. Wir können einen Schlaganfall nicht angemessen an jeder Ecke behandeln. Da braucht es regionale Anlaufpunkte, die dann in die Spezialeinrichtung verlegen. Da ist eine strukturierte Versorgung unabdingbar.
Wie ist die zu erreichen?
Wenn die Politik endlich mehr Mut hätte das zu tun, wozu sie gewählt worden ist. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Kassen Direktverträge mit einzelnen Krankenhäusern schließen und so die Versorgung gemeinsam steuern. Die große Koalition will hier einen kleinen Anfang für vier Indikationen machen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass sie die Tür weiter öffnet.
Die Politik soll folglich den Mut haben, die AOK machen zu lassen?
Nein, aber sie sollte fundiert sagen, wie sich die Versorgung sinnvoll und sachorientiert entwickeln soll. An einer solchen Planung fehlt es. Bestes Beispiel dafür ist der Beschluss Baden-Württembergs, mehr stationäre Plätze in der Kinderpsychiatrie zu schaffen. Das Land geht vor, wie wenn wir noch in der Adenauer-Zeit wären. Es reagiert weit gehend auf den Zuruf der Kliniken. Daran, dass es vor allem an ambulanten Strukturen fehlt, ändert man nichts. Statt erst eine fundierte Analyse zu machen, betreibt das Land Planung wie ein Würfelspiel. Das aber kostet uns einen zweistelligen Millionenbetrag im Jahr.
Macht es die große Koalition besser, wenn Sie mit Servicestellen bei Kassenärztlichen Vereinigungen Patienten rascher einen Termin vermitteln will?
An diesem Punkt sicher nicht. Denn das ist der völlig falsche Ansatz. Die KV ist nicht dafür da, über ein Telefon Facharzttermine zu koordinieren. Allein in Baden-Württemberg gibt es rund 1,7 Millionen Facharztkontakte im Jahr. Nur einen Bruchteil davon zu vermitteln, kann eine KV gar nicht leisten. Die Kassen sollten sich darum kümmern. Wer bei uns in einem Facharztprogramm eingeschrieben ist, bekommt spätestens innerhalb von zwei Wochen einen Termin.
Alle anderen müssen aber warten?
Letztlich entstehen die Probleme auch in diesem Bereich durch eine mangelnde Strukturierung der Versorgung. Viele gehen gleich mit ihren Beschwerden zum Facharzt. Oft gehören sie da aber medizinisch gar nicht hin. Das passiert täglich viele Tausend mal. Die Lösung ist: jeder bekommt den Hausarzt als festen Ansprechpartner, der ihn genau kennt und falls nötig überweist.