Die AOK Baden-Württemberg fühlt sich vom Bund gegängelt und vom Gesundheitsfonds benachteiligt. Ihr Chef Christopher Hermann fordert mehr Autonomie und faireren Wettbewerb. Künftig wolle die Kasse wieder selbst die Höhe ihrer Beiträge bestimmen.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Stuttgart Die AOK Baden-Württemberg fühlt sich vom Bund gegängelt und vom Gesundheitsfonds benachteiligt. Ihr Chef Christopher Hermann fordert mehr Autonomie und faireren Wettbewerb.
Herr Hermann, die Krankenkassen verbuchen hohe Überschüsse. Ist die AOK schon zu einer Bank mit angeschlossenem Gesundheitsservice geworden?
Das hört sich interessant an, aber es stimmt nicht. Wir sind als Krankenversicherungsunternehmen für die Versorgung von fast vier Millionen Versicherten und Patienten mitverantwortlich. Dafür geben wir unser Geld aus. Auch was wir auf der Bank haben, dient letztlich diesem Zweck.

Wie viel haben Sie denn bei der Bank?
Die AOK Baden-Württemberg hat nie viel Geld auf der hohen Kante. Wir investieren in die Versorgung. Wir sind Teil des Gesundheitswesens in Baden-Württemberg, also in einem Hochpreisland. Hier wird hervorragende Arbeit geleistet. Hier wird gut verdient. Und wir müssen dieses Gesundheitswesen bedienen, wir sind strukturbildend dafür. Wir müssen das aber mit Einnahmen leisten, die auf einem Durchschnittsniveau gedeckelt sind. Das zwingt uns der zentralistische Gesundheitsfonds auf, und das führt dazu, dass die Gelder, die wir zurücklegen, nicht in den Himmel wachsen können.

Insgesamt liegen bundesweit jetzt aber 20 Milliarden Euro auf der hohen Kante.
Das ist eine sehr vereinfachte Rechnung. Beim Gesundheitsfonds liegen allein etwa 9,5 Milliarden Euro. Davon sind fünf gebunden durch Mindestreserven und Sozialausgleich. Bleiben 4,5 Milliarden. Die hat der Fonds, weil er 2011 mehr Einnahmen erzielt hat, als durch diese zentralistische Planung erwartet wurden. Das muss man sich mal vorstellen: Im Herbst wird verbindlich festgelegt, wie viel Geld im nächsten Jahr ausgegeben werden darf. Durch eine gute Konjunktur hat man vier bis fünf Milliarden mehr eingenommen. Und dieses Geld bleibt dann auf der hohen Kante liegen. Hätte man es an die Krankenkassen verteilt, hätte man viel für die Versorgung tun können. Aber der Fonds hält das Geld auf einem Konto bei der Bundesbank.

Was ist mit dem Rest?
Die anderen zehn Milliarden haben die Krankenkassen als Rücklagen. Das ist die Grundlage, um Sicherheit zu haben, damit man bei der nächsten Konjunkturdelle nicht sofort in Finanzprobleme kommt. Zehn Milliarden sind eine gute halbe Monatsausgabe, mehr nicht. Die AOK Baden-Württemberg hat im letzten Jahr 152 Millionen Euro Überschuss gehabt. Das ist so viel, wie wir in einer Woche ausgeben.

Sie brauchen also keinen Zusatzbeitrag. Für welchen Zeitraum gilt das?
Ihre Frage setzt voraus, dass sich dieses System noch lange hält. Wir setzen uns dafür ein, dass es spätestens nach der Bundestagswahl deutliche Änderungen geben wird. Das System der Zusatzbeiträge hat sich nicht bewährt. Es hat von Anfang an falsche Anreize geschaffen. Einstweilen kann ich ausschließen, dass die AOK Baden-Württemberg in diesem oder im nächsten Jahr Zusatzbeiträge erhebt.

Sie denken schon an den Wahlkampf?
Ich setze auf eine vernünftige Regierung, die erkennt, dass der bisherige Weg ein Irrweg war. Die Zusatzbeiträge haben keinerlei Effizienz gebracht. Sie haben für eine völlig falsche Fixierung gesorgt. Die Kassen, die Zusatzbeiträge erheben mussten, haben richtig bluten müssen. Diese Art von Wettbewerb hat mit der eigentlichen Aufgabe einer Krankenversicherung wenig zu tun. Die soll sich um eine bessere Versorgungsqualität bemühen. Nun schauen aber alle auf den schnellen Cent. Das ist nicht unsere Welt. Deshalb hoffe ich darauf, dass eine neue Regierung Fehler korrigiert. Wir wollen unsere Beitragsautonomie zurück, um damit in Baden-Württemberg das Beste daraus machen zu können.

Ist es mehr als ein frommer Wunsch, dass irgendjemand zu einer Rückwärtsrolle in der Gesundheitspolitik ansetzt?
Dieses Thema wird in vielen Bereichen der Politik diskutiert, und ich setze darauf, dass die besseren Argumente sich auch durchsetzen. Ich warne davor, dass sich die „Geiz-ist-geil-Mentalität“ festsetzt. Wenn man Versorgung verbessern will, muss man anders vorgehen. Es sind falsche Anreize gesetzt worden. Das Gesundheitssystem sollte doch zum Beispiel chronisch Kranke besser versorgen oder demografische Entwicklungen auffangen.

Wie sähe Ihr Therapievorschlag aus?
In einem System, wo jeder Versicherte sich seine Krankenkasse frei wählen kann – was absolut richtig ist und sich nicht verändern darf –, müssen Krankenkassen wesentlichen Einfluss auf die Versorgung ihrer Versicherten haben. Das ermöglicht Wettbewerb unter den Kassen. Konkret: ich kaufe als Krankenkasse für meine Versicherten die passenden Leistungen ein. Der Versicherte entscheidet, ob dieses Angebot seinen Bedürfnissen entspricht. Und er ist dann bei uns versichert, weil wir – hoffentlich – das qualitativ beste Angebot haben. So stelle ich mir Wettbewerb vor. Das würde auch die notwendige Effizienz im System erzeugen.

Im ambulanten Bereich gestalten Sie ja schon kräftig über die Haus- und Facharztverträge. Wie geht es da weiter? Welcher Bereich kommt als Nächstes?
Das kommt auf die Partner an. Jeder Vertrag ist eine gewaltige Anstrengung aller Beteiligten, weil er eine neue Welt aufbaut. Die Versorgungspfade zu definieren und mit Vergütungsanreizen zu hinterlegen ist ein Riesenakt. Wir müssen das natürlich auch dauerhaft solide finanzieren. Im Moment sind wir in Verhandlungen über einen Orthopädie-Vertrag.

Wie hoch ist der Effizienzgewinn der bisher geltenden Verträge?
Wir haben 2011 rund 250 Millionen Euro darin investiert. Unterm Strich kommt eine hervorragende schwarze Null heraus. Aber man muss natürlich erst mal investieren. Allerdings hat die Koalition in Berlin die Entwicklungsmöglichkeiten da wieder verbaut. Sie fordert, dass jeder Vertrag sich von Anfang an rechnet. Das gibt es sonst bei keinem Investment. So wurde ein Mehr an Wettbewerb abgewürgt. Für eine FDP-geführte Gesundheitspolitik ist das ein bemerkenswerter Vorgang.

Wie sieht es denn im klinischen Bereich aus?
In der stationären Versorgung können wir heute nur zuschauen und müssen jede Operation bezahlen, weil wir gezwungen sind, mit jedem Krankenhaus zusammenzuarbeiten. Das ist kein Wettbewerb. Auch hier müssen wir dazu kommen, dass die Kassen mit den Partnern auf der Krankenhausseite selektiv verhandeln können. Kliniken, die gute Qualität bringen, die eine hervorragende Organisation in ihren Häusern haben, werden an diesem System partizipieren, andere natürlich weniger. Wettbewerb hat immer Gewinner und Verlierer.

Sie sagen dann den Versicherten, in welches Krankenhaus sie gehen können?
Wir machen ihnen ein Angebot. Ein Gesundheitswesen ohne Strukturierung ist ein Bauchladen, den niemand finanzieren könnte.

Wie erleben Sie die aktuelle Debatte über die Skandale in der Transplantationsmedizin?
In Deutschland, insbesondere in Baden-Württemberg, haben wir ein extremes Unverhältnis von Menschen, die Spender sind, und denen, die ein Spenderorgan brauchen. In dieser Mangelsituation bricht sich auch kriminelle Energie Bahn. Das darf so nicht weiterlaufen. Man muss sehr genau schauen, was verändert werden muss, damit nicht über letztlich mafiöse Vorgänge bestimmt wird, wer ein Spenderorgan erhält und wer nicht. Nach meinem Dafürhalten könnte noch mehr ans Tageslicht kommen. Es würde aller Lebenserfahrung widersprechen, wenn die Vorgänge nicht dazu führen, dass die Spendenbereitschaft der Menschen leider noch weiter einbricht.