Welche Folgen haben Kapitalismus, Konkurrenzdenken und die totale Vermarktung des Einzelnen auf unser Leben? Die Berliner Philosophin Ariadne von Schirach sorgt sich vor allem um die Liebe und ihre Leichtigkeit, wie sie im StZ-Interview erklärt.

Berlin – - Selbstoptimierung, Konkurrenzdenken und Berechnung haben sich heute fast schon zu positiven Werten entwickelt. Das beanstandet die Berliner Philosophin und Publizistin Ariadne von Schirach und fragt sich in ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst“, was dieses Denken mit den Menschen und ihren Beziehungen macht. Im StZ-Interview beschreibt sie ihr Unbehagen angesichts der auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft und erklärt, warum es wichtig ist, alte Fragen neu zu stellen.

 
Frau von Schirach, sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihr Buch folgendermaßen zusammenfasse: Der Kapitalismus ist böse, der Schönheitswahn wird immer schlimmer, die Menschen immer oberflächlicher?
Unter keinen Umständen. Das ist viel zu einfach. Ich denke, dass die ökonomische Sphäre angefangen hat, ihre Werte wie Sicherheit, Effizienz und Profitmaximierung in anderen Sphären auszubereiten. Zum Beispiel in Universitäten oder Krankenhäusern und mehr und mehr beim Menschen selbst, der sich in eine Ich-AG verwandelt und dadurch auch zum Produkt wird: sichtbar, lesbar und vergleichbar. Ob in sozialen Netzwerken, Castingshows oder innerhalb der Datingkultur: jeder steht in der Konkurrenz zu den Bildern der anderen. Am Ende der Ökonomisierung steht die totale Vereinzelung.
Und daran ist das System schuld?
Es geht nicht um Schuld. Sondern um Verantwortung und Wechselwirkung. Systeme produzieren Meinungen und Werte, und Menschen produzieren Systeme. Der Kapitalismus sitzt ja nicht irgendwo und ist ein dicker Mann. Obwohl wir in den Verhältnissen leben und leben müssen, sind wir zugleich die Verhältnisse. Es liegt an jedem Einzelnen, wie viel er vom herrschenden Zeitgeist verkörpert.
Ariadne von Schirachs Buch ist gerade erschienen. Foto: Verlag
Ist es nicht so, dass sich Menschen in kapitalistisch geprägten Gesellschaften besonders nach ideellen Werten wie Solidarität und Freundschaft sehnen und das auch ausleben?
Es gibt immer Gegenkräfte. Ich schreibe im Buch auch über Geschichten des Gelingens, über Menschen, die aneinander festhalten und sich für einander einsetzen, die Verantwortung übernehmen für die Welt, die um sie herum ist. Mein Anliegen ist die Verteidigung des Lebendigen angesichts seiner schleichenden Totalverwertung.
Auf der anderen Seite beschreiben Sie den Menschen als Ich-AG, der sich ständig selbst optimiert. Wie meinen Sie das?
Der Markt beruht auf Konkurrenz. Wenn sich unser soziales Leben den Normen des Marktes unterwirft, dann wird der Konkurrenzkampf zum Alltag. Ich habe gerade eine Anzeige eines großen Versandhauses gesehen, darauf trägt eine Frau ein Kleid, auf dem steht „Meins, nicht deins“. Das ist doch zum Heulen! Das ist das Gegenteil von Solidarität. Oder nehmen wir das Beispiel der Datingkultur: Da geht es doch darum, immer ganz genau zu wissen, wer man ist und was man will. Dabei wissen wir eigentlich gar nicht immer, wer wir sind und was wir wollen. Der bildgewordene Mensch ist ziemlich tot.

Alle wissen Bescheid, trotzdem ändert sich nichts

Dass wir nicht funktionieren sollen und es besser wäre, der Lebendigkeit mehr Raum zu geben, ist nichts Neues.
Ich bin die erste, die zugibt, dass ich nichts Neues schreibe. Nichtsdestotrotz beobachte ich, dass wir inzwischen fast alles zu Markte tragen – sei es unsere Sexualität, unsere Persönlichkeit oder unseren Körper. Das war vor zehn Jahren noch nicht so umfassend. Dabei geht viel von dem verloren, was ich für lebenswert halte: Respekt, Zärtlichkeit, absichtslose Freundlichkeit. Interessant ist, dass wir das alle wissen und trotzdem nichts passiert. Wie mit der Internetüberwachung. Alles geht einfach so weiter. Nur die Angst wird größer. Das besorgt mich.
Sie schreiben, dass die Liebe besonders unter der unterkühlten Gesellschaft leidet. Woran machen Sie das fest?
Die Liebe ist ein ambivalentes, unberechenbares Gefühl. Da es immer mehr um Berechenbarkeit, Effizienz und Kontrolle geht, ist genau diese Lebendigkeit der Liebe bedroht. Innerhalb der Datingkultur versuchen sich Menschen in Fragebögen zu verwandeln, um dann einen dazu passenden Fragebogen zu finden. Trotzdem gibt es immer mehr Singles. Die sich so sehr mit sich beschäftigen, dass da fast kein Platz mehr ist für einen echten anderen. Egoismus ist der größte Feind der Liebe.
Machen wir uns ein falsches Bild von der Liebe?
Die romantische Liebe ist gerade stark mit Konsum und Selbstwert verknüpft. Dazu hat sie eine fast religiöse Aura, wie ein heiliges Versprechen, dass dann endlich alles gut würde. Dadurch fängt sie an, alle anderen Formen der Liebe aufzusaugen: Freundschaft oder Solidarität zum Beispiel. Man kann auch die Natur lieben, eine Idee, ein Tier. Diese kleinen Lieben scheinen neben der großen Romantikshow zu verblassen. Dabei sind sie es doch, die unser Leben zusammenhalten.
Was macht das Internet mit unseren Beziehungen?
Das Internet erschwert die emotionale Anteilnahme. Wenn ich maile, kommentiere oder chatte, nehme ich keine direkte körperliche Reaktion des Gegenübers wahr. Der Philosoph Emmanuel Levinas schreibt über das Antlitz des anderen als Anrufung. Der Blick eines Menschen hat eine ethische Wucht. Doch diese Anwesenheit des anderen, seine emotionalen Reaktionen wie Freude, Scham oder Schmerz sind im Netz meist nicht erfahrbar. Da lassen sich leicht gemeine Sachen schreiben oder irgendwelche Fantasien entwickeln. Und doch ist am anderen Ende jeder virtuellen Kommunikation immer ein lebendiger Mensch.

Spross einer bekannten Familie

Ariadne von Schirach wurde 1978 in München geboren. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Soziologie in München und Berlin. Sie ist die Tochter des Schriftstellers Richard von Schirach und Enkelin des ehemaligen NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach sowie der Schriftstellerin Henriette von Schirach. Ihr Bruder ist der Schriftsteller Benedict Wells und ihr Cousin der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach. Ariadne von Schirach arbeitet als freie Autorin und ist Kritikerin beim„Deutschlandradio Kultur und beim „Philosophie Magazin“. An der Universität der Künste Berlin hat sie einen Lehrauftrag. 2007 veröffentlichte von Schirach das Buch „Der Tanz um die Lust“, das zum Bestseller wurde. Darin setzt sie sich mit den Folgen der sexualisierten Gesellschaft auseinander. Ihr neues Buch „Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst“ ist im Tropen-Verlag erschienen.