Raed Saleh kam als Einwandererkind nach Berlin. Heute ist der Fraktionschef der SPD in der Hauptstadt. Weshalb er glaubt, dass seine Partei künftig Migranten als Wähler gewinnen muss, sagt er im Interview.

Berlin - Die SPD sollte nach Auffassung ihres Berliner Fraktionschefs Raed Saleh für die Bundestagswahl die Wählergruppe der Migranten stärker in den Blick nehmen. Die Wahlbeteiligung bei Deutschen mit ausländischen Wurzeln sei geringer als bei Nichtmigranten, sagt Saleh. Viele fühlten sich von den Parteien zu wenig angesprochen.

 
Herr Saleh, aus Ihrer Sicht sprechen die Parteien in Deutschland die Migranten als Wählergruppe zu wenig an. Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis und wo sehen Sie Defizite?
Man muss sich nur die Zahlen anschauen. In Deutschland leben etwa 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Einen Großteil von Ihnen konnten wir bislang nicht von der Idee begeistern, deutsche Staatsbürger zu werden. Ich glaube aber, dass viele dieser Menschen das Land, in dem sie leben, schätzen und auch lieben. Aus meiner Sicht ist es auch die Aufgabe von Politikern, die Menschen auch dafür zu gewinnen, am Ende alle Rechte und Pflichten in diesem Land wahrzunehmen.
Blicken wir auf die Menschen mit ausländischen Wurzeln, die die Staatsbürgerschaft haben – auch unter ihnen ist die Wahlbeteiligung etwas geringer als unter Bio-Deutschen. Warum?
Ich glaube, einige fühlen sich vielleicht zu wenig angesprochen, zu wenig gemeint. Bei der Wahl 2009 waren es unter Migranten 72,9 Prozent, bei den Nichtmigranten 80,8. Da ist noch Luft nach oben.
Für Ihre Partei wäre es besonders gut, wenn so viele Migranten wie möglich wählen gingen – Erhebungen zufolge bevorzugt diese Wählergruppe die SPD. Warum ist das so?
Die erste Generation der Migranten war der Auffassung, dass die SPD eher für sie ist. Ich habe das im Elternhaus oft gehört – was genau mein Vater damit meinte, weiß ich bis heute nicht präzise. Ich nehme an, er meinte mit uns eher die Arbeitnehmer, die kleinen Leute, als uns Migranten. Auf eine andere Weise wurden die Aussiedler aus der ehemaligen UdSSR geprägt, weil Helmut Kohl ihnen sagte: wir wollen den Menschen eine neue Heimat geben. Dagegen war Oskar Lafontaine derjenige, der auf der Bremse stand. Bis heute wählen diese migrantischen Milieus verstärkt CDU.
Hat die SPD unter Migranten Vertrauen verloren, weil aus Ihren Reihen Thilo Sarrazin kam und zum Beispiel Muslimen wie Ihnen generell eine gewisse Leistungsbereitschaft absprach?
Sarrazin hat der SPD geschadet. Menschen, die über Generationen Vertrauen aufgebaut hatten, wurden enttäuscht. Es waren noch nicht mal nur Sarrazins Aussagen, die dieses Vertrauen erschüttert haben. Es war die lange Nichtreaktion der SPD. Und Vertrauen, das man einmal verloren hat, lässt sich nur langsam wieder aufbauen. Auch zur Zeit werden jeden Tag neue Lebensgeschichten mit Erfahrungswerten geschrieben, welche die politischen Mehrheiten in Zukunft mitprägen werden.
Schaut man sich die Zahlen an, dann ist die SPD gerade dabei, eine neue Zuwanderergruppe nicht für sich zu gewinnen: EU-Bürger aus osteuropäischen Ländern neigen der Union zu. Was machen Sie da falsch?
Es gilt, was für alle Wähler gilt. Wir müssen die Themen ansprechen, die diese Menschen bewegen. Und die Menschen müssen vorkommen, sie müssen adressiert werden. Das tun wir vielleicht zu wenig. Außerdem bilden sich hier die politischen Strömungen in Europa ab. In Osteuropa gibt es eine Distanz zur deutschen Flüchtlingspolitik oder eine kritische Haltung zu Menschen mit muslimischem Glauben. Was wir nun in Deutschland zeigen können ist, wie es gelingt, ein friedliches Zusammenleben zu organisieren. Als SPD ist es unsere Aufgabe, diese Menschen über Themen anzusprechen wie Bildung, faire Arbeitsmarktpolitik, soziale Gerechtigkeit.
Was entgegnen Sie denn jungen Deutsch-Türken in Berlin, die nun beim Verfassungsreferendum in der Türkei abstimmen und für Erdogan sind?
Ich befürworte die doppelte Staatsbürgerschaft, das bedeutet natürlich auch, dass ich es für legitim halte, wenn sich die Leute politisch positionieren. In Gesprächen mit vielen jungen Deutsch-Türken sage ich aber schon: schaut doch mal, welche Möglichkeiten Euch das deutsche System gibt. Ihr könnte auf die Straße gehen und ohne Angst Eure Meinung sagen, Ihr seid frei, Eure Religion auszuüben. Ihr könnt mit Blick auf Eure Vorfahren voller Stolz sagen, dass sie als Minderheit in diesem Land gut aufgenommen wurden. Und daran misst sich eine gute Demokratie – wie sie mit Minderheiten umgeht.
Die AfD hat hohe Chancen, in den Bundestag einzuziehen. Sie ist nicht migrantenfreundlich. Versuchen Sie, Nichtwähler mit diesem Argument zur Wahl zu bewegen?
Ich fordere die Menschen immer auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Ich sage immer, wenn ich an Schulen unterwegs bin, wo ja auch viele junge Erwachsene mit migrantischen Wurzeln sind: es gibt hier eine Partei, die die Art und Weise unseres Zusammenlebens komplett in Frage stellt. Die behauptet, dass eine andere Religion nicht den gleichberechtigten Stellenwert in der Gesellschaft hat. Die die Notwendigkeit, Flüchtlingen zu helfen, komplett in Frage stellt. Wenn ich das nicht will, dann bin ich als Wähler aufgerufen, mich zu wehren.
Das Gespräch führte Katja Bauer