Auf Facebook hält Boris Palmer direkten Kontakt zu den Tübingern und stachelt zu provokanten Debatten an. Der Oberbürgermeister spricht im Interview über seine digitale Leidensfähigkeit, den Umgang mit kriminellen Flüchtlingen und erklärt, warum er sich mitunter wie eine Straßenlaterne fühlt.

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Tübingen - Die Unbeschwertheit im Amt ist der Ernüchterung gewichen. Der Tübinger Rathauschef Boris Palmer setzt sich erfolgreich für den Klimaschutz und Integration ein, aber auf so manche Endlosschleife im Dialog mit den Bürgern würde der 44-Jährige gerne verzichten.

 
Herr Palmer, Sie sind ständig auf Facebook präsent. Sie teilen aus, stecken aber auch ein. Warum tun sie sich das an?
Dass ich austeile, registriere ich nicht. Ich beziehe Position und stelle Thesen zur Diskussion. Ich sage meine Meinung, das hat einen biografischen Hintergrund. Mein Vater hat an seine Hauswand malen lassen ‚Eigensinn und Glauben lass ich mir nicht rauben’. Das ist bei mir auch so. Meinungsfreiheit ist etwas Großartiges, sie geht aber auch einher mit der Pflicht, sich eine Meinung zu bilden.
Auch wenn dann ein Shitstorm folgt?
Ich kann doch nicht sagen, wir geben das Internet auf. Das ist der Marktplatz der Gegenwart. Da dürfen sich nicht nur Rechte oder Radikale austoben. Die Angriffe im Netz sind zwar ärgerlich und belastend, aber auch bereichernd. Ich erfahre vieles, was ich sonst nicht höre und sehe. Man darf das nur nicht absolut setzen. Die Posts haben oft eine Schlagseite.
Wäre zurückgelehnte Rathausbesonnenheit nicht manchmal ratsamer?
Besonnenheit schadet nie, aber sich zurückzulehnen ist nicht meine Aufgabe. Diskussionen sind das Salz in der Suppe der Demokratie. Ich reagiere direkt auf die Thesen der Menschen, auch wenn es um Themen wie die AfD geht. Es gibt so ein seltsames Comment, sich mit Igitt-Zeugs nicht auseinanderzusetzen. Aber wer zwei Direktmandate bei der Landtagswahl gewinnt, den kann man nicht ignorieren, auch wenn die Auseinandersetzungen schmerzhaft sind.
Sollten Politiker dem Volk stärker aufs Maul schauen?
Das Entscheidende ist die gute alte Rommelsche Differenzierung. Man muss dem Volk aufs Maul schauen, ohne ihm nach dem Mund zu reden. Das ist ein Balanceakt. Das kriege ich auch nicht immer hin.
Sie haben sich auf Facebook in die Diskussion um den Reutlinger Flüchtling eingemischt, der eine Polin mit einem Kebabmesser getötet hat. Sie debattierten über die Herkunft der Täter von München, Reutlingen, Würzburg und Ansbach. Werfen Sie da nicht zu viel in einen Topf?
Die Taten stehen in einem Zusammenhang. Wir wissen, dass drei der vier Täter vor zwei Jahren noch nicht im Land waren. Wer kommt da nicht ins Grübeln? Das darf man nicht einfach ausklammern oder gleich als rechtspopulistisch abtun. Besser ist es, den Zusammenhang zu analysieren und die Sache einzuordnen.Wir müssen uns fragen dürfen, welche Auswirkungen es auf unser Land hat, dass eine Million Menschen zu uns gekommen sind, von denen wir noch nicht sehr viel wissen.
Damit wird aber auch die Angstdebatte befördert. Ist das nicht gefährlich?
Angst wird durch Verdrängen nicht kleiner. Ich habe daher im gleichen Post geschrieben, dass es hundertmal wahrscheinlicher ist, mit dem Auto auf der Straße zu verunglücken als von einem Amokläufer angegriffen zu werden. Das Risiko mathematisch richtig zu bewerten, kann helfen. 99,9997 Prozent aller Asylbewerber haben keine Attentate verübt.
Wie sollte man mit gewaltbereiten jungen Flüchtlingen umgehen?
Eine schwierige Frage. Es gibt Verhaltensweisen, die dazu führen, dass man sein Aufenthaltsrecht und Schutzbedürfnis verwirkt. Wenn sich jemand nicht an elementare Regeln hält, sind wir berechtigt zu sagen, für euch greift das Asylrecht nicht mehr.
Wohin schiebt man einen Syrer ab?
Da Syrer nicht mehr in ihre Ankunftsländer zurückgeschickt werden, gibt es nur einen Weg – zurück ins Herkunftsland.
Nach Syrien, das wäre lebensgefährlich.
Es gibt auch in Syrien Gebiete, die nicht im Krieg sind. Wie erkläre ich denn der Familie eines Opfers, dass der Täter noch im Land ist, obwohl er so aggressiv war? Da ist die Antwort „In Syrien ist es unsicher“ wenig befriedigend.
Wie sieht die Situation der Flüchtlinge in Tübingen aus? Hat sich die Lage entspannt?
Ja, aber die Zahlen können schnell wieder ansteigen. Für den Moment gilt: Beim Land herrscht fast schon Unterbeschäftigung. Es gibt Einrichtungen, die sind für 1000 Leute konzipiert und 25 sind noch da. Bei den Landkreisen ist die Höchstbelegung vorbei, es wird langsam weniger. Bei den Kommunen kommt die Arbeit erst an. In Tübingen haben wir ein Rekordbauprogramm für 1500 Flüchtlinge gestartet. Gebaut wird dezentral, mit großem Engagement der Bürgerschaft. Wir haben die größten Ansprüche zu erfüllen, wir müssen die Integration möglich machen.
Wie lässt sich diese Aufgabe bei den vielen jungen Männern umsetzen?
Das ist ein Dilemma. Diese Flüchtlinge haben drei zentrale Hoffnungen, an denen der Integrationserfolg hängt. Sie wünschen sich eine schnelle und gute Unterbringung. Das schaffen wir in den meisten Fällen noch nicht. Für Familien findet sich viel einfacher Wohnraum als für alleinstehende Männer. Sie wollen ihr eigenes Geld verdienen. Auch das klappt nur selten. Und drittens haben sie den Wunsch, ihre Familienangehörigen nachzuholen. Das kann bisher nur im Ausnahmefall erfüllt werden. So wächst die Frustration, und die Sozialarbeiter sind gefragt. Bei einem Betreuungsschlüssel von 1:140 würde ich im Moment nicht garantieren, dass das ausreicht, um zu erkennen, ob jemand abdriftet.
Sie sind seit bald zehn Jahren Oberbürgermeister. Wie hat Sie das Amt verändert?
Als ich anfing, war es leichter, unbeschwerter, enthusiastischer. In so ein Amt zu kommen ist ein Geschenk. Ich fühlte mich die ersten Jahre wie auf einer Endorphinwelle. Jetzt gibt es mehr Momente, wo ich denke: nein, nicht schon wieder dieses Thema, nicht diese Debatte mitten auf der Straße, bitte nicht in dieser unflätigen Weise im Internet. Da kommt einem gelegentlich etwas aus dem Ratgeberwörterbuch für Bürgermeister in den Sinn. Dort heißt es: die Aufgabe des Bürgermeisters ist vergleichbar mit der einer Straßenlaterne. Unten darf jeder Hund sein Geschäft abladen, oben muss sie trotzdem immer strahlend leuchten.
Das schafft selbst ein Rathauschef nicht immer?
Ja, manchmal ist die Birne kaputt, dann ist es dunkel.
Wie kommen Sie wieder zu Kräften?
Um den Stress zu bewältigen, setze ich mich aufs Fahrrad und verschwinde auf die Schwäbische Alb. Dann radele ich möglichst schnell, damit mich keiner mehr erreichen kann. Ganz wichtig ist es, genügend Erfolgserlebnisse zu haben, um mit den Misserfolgen klarzukommen. Die Gesamtentwicklung in der Stadt ist großartig, das Feedback der Leute ebenso. Ich bin da sehr zufrieden.
Welche Aufgabe reizt Sie noch? Wollen Sie nach Berlin?
Von Ermattung im Amt bin ich weit weg. Das ist mal klar. Reizvoller als andere politische Ämter fände ich die Herausforderung, in der Wirtschaft etwas zu bewegen. Es wäre spannend, sich darum zu kümmern, dass endlich mehr Windräder laufen, bei Daimler mehr grüne Autos gebaut werden oder die Bahn pünktlich fährt.
Vorher werden Sie aber noch die Klimabilanz Tübingens weiter verbessern?
Wir haben in Tübingen den CO2-Ausstoß um 22 Prozent reduziert seit ich Oberbürgermeister bin. Das ist ein Spitzenwert in Deutschland. Die minus 22 Prozent gehen einher mit der Verdoppelung des Gewerbesteueraufkommens, mit 15 Prozent mehr Arbeitsplätzen und zehn Prozent mehr Einwohnern. Die Stadtwerke haben in Erneuerbare Energien investiert, wir werden bis im Jahr 2020 70 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung erzeugen.
Als erste Kommune in Deutschland wollen Sie den Bürgern vorschreiben, dass sie bei Neubauten Fotovoltaik einplanen müssen. Gehen Sie da nicht zu weit?
Es ist richtig, dass wir an einer Solarsatzung arbeiten. Strom vom eigenen Dach kostet weniger als vom Lieferanten. Wo es keinen Nachteil darstellt, darf man das Solardach vorschreiben. Wir haben das Recht, den Einsatz von erneuerbaren Energien in der Bauleitplanung zu verankern. Im Neubaugebiet Güterbahnhof haben wir das umgesetzt, da entsteht ein Stadtteil für 1500 Einwohner und jedes Dach wird eine Fotovoltaikanlage haben. Das ist ein Anfang. Unsere Stadt soll in den Neubaubezirken von oben betrachtet künftig blau sein.

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