Auch nicht von Frau Merkel?
Wie denn? Ich wüsste keinen Rat. Frau Merkel ist im Grunde eine einfache Person, die ihre Lebensthemen gefunden hat. Nach dem Nein zur Atomkraft ist es jetzt die Flüchtlingshilfe: zwei Heldentaten, auf die selbst mit den Abschiebungen in Griechenland kein Schatten fällt. Als ich ihre Rede bei der Trauerfeier für Guido Westerwelle hörte, dachte ich: Sie ist eine in sich überzeugende Person. Wir können stolz sein auf unser Land, dessen mächtigste Politikerin eine Frau ist und das einen Außenminister hatte, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. In Frankreich, in Italien, in den USA: undenkbar! Insofern ist Merkel das Symbol für das bessere Deutschland.
Sie besucht ja regelmäßig Ihr Theater . . .
. . . und bestärkt mich in der schönen Illusion, dass die Bühne die Menschen doch erziehen und zur Hebung ihrer Moral beitragen kann. Das war ja schon immer mein Traum (lacht) . . .
Apropos Moral, ich insistiere: darf man mit einem Autokraten wie Erdogan überhaupt politische Geschäfte machen?
Sie berühren ein heißes Thema meines Theaters. Wir sollen im Mai mit der „Dreigroschenoper“ in Istanbul gastieren, aber jetzt will ein wesentlicher Teil des Ensembles und der Technik nicht mitfahren. Deshalb sind heftige politische Diskussionen zwischen Außenministerium und Goethe-Institut, dem deutschem Generalkonsulat und den türkischen Veranstaltern entbrannt. Das Gastspiel wackelt. Zum einen wegen Sicherheitsbedenken, zum anderen aber wegen des bitteren Beigeschmacks, dass die Türkei nicht mehr im Sinne Atatürks regiert wird. Die Religion bestimmt wieder stark die Politik. Insofern ist Erdogan ein fragwürdiger Partner . . .
. . . und ein beliebtes Objekt von Satirikern. Was halten Sie von den Ermittlungen gegen Jan Böhmermann?
Ich sollte mich jetzt wohl empören.
Das hätte ich vermutet.
Natürlich sind die Ermittlungen lächerlich, natürlich ist Erdogan ein Reaktionär. Aber wir sollten uns vergegenwärtigen, was wir in den Kerl schon alles an Spott und Häme reingeschüttet haben. Dass er da zurückschlägt, überrascht mich nicht. Andererseits: wir müssen auch vor der eigenen Haustür kehren. Wie geht denn die USA mit freiheitsliebenden Menschen wie Edward Snowden um? Na ja, es ist schon alles sehr kompliziert.
Komplizierter als früher?
Dass ich nach wie vor einen sozialistischen Traum in der Tasche trage, hat sich herumgesprochen. Aber der sichere Hort des Gutmenschensozialisten, den ich früher bewohnt habe, ist beschädigt worden. Früher saßen die Greise, wenn sie sich nicht mehr zurecht gefunden haben, am Straßenrand und haben mit dem Kopf gewackelt – in dieser Rolle sehe ich mich heute auch.
Kommen wir aufs Theater zu sprechen.
Sehr gerne. Letztlich bin ich ja doch nur ein politischer Zirkusdirektor, der in Berlin ein erfolgreiches Theater führt. Wie überhaupt alle meine Theater – ob in Stuttgart, Bochum oder Wien – zu Erfolgsbühnen wurden! Wir spielen bei einer Auslastung von fast hundert Prozent, davon kann Armin Petras in Stuttgart nur träumen.
Wie schaffen Sie dieses Traumergebnis?
Weil ich nicht mehr durch die Welt finde, versuche ich wenigstens im Theater, die von Lessing, Schiller, Brecht, Müller formulierten Utopien wachzuhalten. Ich weiß nicht, was ich sonst tun könnte, denn ich sehe ja den Feind nicht mehr. Er verbirgt sich im Nebel. Das ist vermutlich das Problem aller Intellektueller nach Sartre oder Grass: Die Welt ist nicht mehr in Gut und Böse einzuteilen.
Leidet darunter auch das Theater?
Fürs Theater sind Reibungsflächen immer gut. Konservative Strukturen mit konservativen oder reaktionären Politikern, wie ich Sie in Stuttgart und Wien angetroffen habe, beflügeln die Fantasie. Diese Strukturen fehlen in Berlin völlig. Castorf kann an seiner Volksbühne tun und lassen, was er will, das juckt keinen mehr. Alle finden alles nur cool. Schrecklich! Aber das Theater leidet noch an etwas anderem.
Das wäre?
Wir haben unsere größte Qualität in Frage gestellt: Wir haben die Literatur vertrieben. Das Berliner Ensemble ist das einzige Theater in Berlin, das noch komplette Stücke spielt. Bei meinen Kollegen werden die Stücke zerlegt, zersägt, vernichtet. Die Sprache spielt kaum eine Rolle mehr. Und auf den Spielplänen ist die Hälfte aller Titel auf Englisch. Warum eigentlich? Deutsch ist doch eine wunderbare Sprache. Und dann das innerste Geheimnis der Bühne: die Fiktion! Nehmen Sie Brechts „Kaukasischen Kreidekreis“, wenn es um die Frage geht, wer die wahre Mutter des Kindes ist. Der Richter sagt: Schauen wir mal, wer das Kind auf seine Seite zieht – und natürlich lässt Grusche das Kind los und erweist sich als wahre Mutter, auch wenn sie nicht die leibliche ist. In diesem Moment sind wir alle Grusche, in dieser unglaublich schönen Sekunde, die uns zu guten Menschen macht.
Sind solche Fiktionen auch ein Mittel gegen die Militarisierung der Seelen?
Unbedingt, auch wenn wir das Theater wieder als Gauner verlassen werden. Aber in diesem Moment der Atemlosigkeit – in der katholischen Kirche das Wunder der Verwandlung von Wein in Blut – entfaltet das Theater seine größte, von keiner anderen Kunst einzuholende Kraft. Höchstens in der Musik, in Sinfonien von Beethoven oder Mahler, kann uns für Sekunden das Göttliche noch so stark entgegen leuchten wie auf der Bühne. Deshalb rennen uns die Leute ja die Bude ein. Das Berliner Ensemble ist eine Art moralischer Kirche.
Und was macht die Berliner Kulturpolitik?
O Gott! Furchtbar! Man kann nur hoffen, dass die Neuwahlen im Herbst einen Teil der Verantwortlichen hinwegschemmt. Da bin ich mir auch ziemlich sicher. Was der Regierende Bürgermeister Michael Müller und sein Kulturstaatssekretär Tim Renner angerichtet haben, ist mehr als nur ein Kollateralschaden. Wer Castorfs Volksbühne in die Hände eines Museumsdirektors legt, macht die Volksbühne kaputt. Und wenn mein Nachfolger am BE große Teile des Volksbühnen-Ensembles in sein Haus holt, geht auch das BE zugrunde. Zwei tote Theater. Berlin: ein Trümmerfeld.
Und Stuttgart?
Ein Glücksfall. Meine Stuttgarter Jahre, so wirr und wahnsinnig sie auch waren, sind mir unvergesslich. Filbingers reaktionäre Politik war ein idealer Hintergrund für meinen jugendlichen Zorn, meine Wut und mein Weltverbesserungstum. Und dann die Menschen! Ich war traurig, als Manfred Rommel starb. Und ich war traurig, als jetzt auch Peter Conradi gestorben ist, die Symbolfigur für das rebellische, konsequente und gescheite schwäbische Gemüt, das ich auch in Winfried Kretschmann verkörpert sehe. In fast jedem Schwaben, so spießig und rotkohlfutternd er sich auch zeigt, steckt ein Revolutionär. Das Aufrührertum im bürgerlichen Gewand ist eine Lebensform für die heutige Zeit. Rommel, Conradi, Kretschmann – obwohl ich Norddeutscher bin, sehe auch ich mich in dieser Reihe.