Ein Gespräch mit dem Schriftsteller David Grossman über Teufelskreise in der Nahostpolitik und die Ängste seiner Landsleute.

Stuttgart - Ein Gespräch mit dem Schriftsteller David Grossman über Teufelskreise in der Nahostpolitik, die Ängste seiner Landsleute und den Tod seines Sohnes im Libanonkrieg.

Sie sind nicht nur eine literarische Stimme Israels, sondern auch eine Ikone des Friedenslagers. Nach dem Tod ihres Sohnes Uri im Libanonkrieg umso mehr. Sie plädieren sogar für den Dialog mit der Hamas. Waren da nicht auch ganz andere Instinkte, auf diesen tragischen Verlust zu reagieren?


Natürlich gab es sie, die ganze Skala. Wenn einem so etwas passiert, will man Vergeltung, man hasst, ist verletzt, die ganze Gefühlspalette. Ich glaube nicht, dass ein Mensch davon verschont wird. Die Frage ist bloß, was man damit macht. Immer, wenn ich dem Hass nachgab, spürte ich, dass ich mich nicht mehr meinem Sohn Uri nahe fühlte.

War das Schreiben ein therapeutischer Akt?


Eines weiß ich sicher: ohne das Schreiben hätte ich ein ernstes Problem bekommen. Seit damals schreibe ich im Schatten dessen, was meiner Familie zugestoßen ist. Alles wird dadurch gefiltert. Für mich ist Schreiben die beste Art, um zu verstehen, was passiert ist, und mich ganz dem Innersten der Geschehnisse auszusetzen. Nicht in masochistischer Weise, sondern um die Bedeutung zu erfassen. Was bedeutet Leben in solcher Nähe zum Tod? Der Faktor Tod scheint etwas Monolithisches zu sein. Aber so dramatisch und total der Tod ist, kann unser Umgang mit ihm nuanciert und sogar flexibel sein.

Stimmt es, dass die Zeit die Schmerzen lindert?


Der Schmerz verändert sich ständig. Manche Tage sind leichter, andere schwerer. Ich empfinde es wie eine Landschaft, auf die täglich die Schatten in unterschiedlicher Weise fallen. Ich will in der Lage sein, das zu dokumentieren. So bleibe ich aktiv und bin nicht nur Opfer.

Als Ihr Sohn im Libanonkrieg umkam, schrieben Sie gerade an dem Buch "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", das von der Sorge einer israelischen Mutter um ihren Sohn in der Armee handelt.


Ja, ich arbeitete damals schon seit drei Jahren daran. Weil die Angst um unsere Kinder sehr existenziell ist. Jeder kennt sie, auch wenn er keinen Sohn oder keine Tochter in der Armee hat. Die Angst ist immer da, entweder konfrontiert man sich mit ihr oder leugnet sie. Israel als sehr vitale Gesellschaft neigt dazu, die Furcht auszublenden, um noch am Rand des Abgrunds spazieren zu können.

Verzweifeln Sie nicht manchmal daran, dass alle Friedensversuche bisher gescheitert sind?


Ich bin eine sehr emotionale Person, aber wenn es politisch wird, dürfen wir uns nicht nur Gefühlen hingeben. Man muss zwar die Ängste beider Völker, ihr gegenseitiges Misstrauen miterleben. Wer nicht begreift, in welchem Ausmaß das Denken dadurch bestimmt wird, kann nicht helfen, diesen Konflikt zu lösen. Man muss jedoch trotzdem einen kühlen Kopf behalten. Anton Tschechow hat einmal gesagt, beim Verfassen seiner Romane gehe er eiskalt vor. Ich selbst habe nichts in meinem Leben eiskalt getan. Aber wenn wir eine Lösung für unseren Konflikt wollen, müssen wir kühl herangehen.

Im November 2006 haben Sie in ihrer ersten öffentlichen Rede nach Ende des Libanonkrieges der damaligen Regierung Olmert vorgeworfen, "hohl" zu sein. Unter Olmert gab es zumindest einen Friedensprozess. Statt seiner regieren jetzt die Nationalrechten: Netanjahu, Lieberman und Co. Hat sich politisch alles nur noch verschlechtert?


Netanjahu hat die Ängste seines Volkes angestachelt, statt ihm eine wirkliche Vision zu bieten. Der einfachste Weg, in diesem Land gewählt zu werden. Als Premier ist er jetzt überrascht, dass die Menschen ihm nicht folgen, wenn er über Frieden redet. So war es mit jedem israelischen Premier - ein Teufelskreis. Genauso wie wir immer wieder auf Krieger setzen. Ich verstehe sogar, dass Leute, die in einem Dauerkonflikt leben, solche Führer wollen.

Die Sehnsucht nach der starken Hand ist durch Intifada sowie die Kriege in Libanon und Gaza noch gewachsen, oder?


Ja, aber vielleicht verhält es sich genau umgekehrt. Weil wir Krieger wählen, mangelt es unseren Regierenden an Kreativität, die Realität in einer komplexeren, differenzierten Weise zu verstehen. Israel verhält sich wie paralysiert. Es macht mich ganz verrückt. Weil doch jahrzehntelang zu den israelischen Qualitäten zählte, mutig und einfallsreich zu sein. Heutzutage reagieren wir nur auf Situationen, die uns aufgezwungen wurden.

Sind Sie von Israel enttäuscht?


Es war eine seltene Gelegenheit, dass wir diesen Fleck Erde hier bekommen haben. Hätten heute die Vereinten Nationen über eine Staatsgründung Israels zu entscheiden, käme das nicht durch. Damals, 1947, waren wir glücklich und clever genug, dieses Land zu schaffen. Es ist leicht, zu kritisieren und sogar zu dämonisieren. Aber ich vergesse nicht für eine Sekunde, wie schrecklich die Alternativen womöglich wären, hätten wir kein Israel.

Sie sind also doch ein Patriot!


Schauen Sie, Israel besteht jetzt 62 Jahre, und es gab keinen Tag ohne irgendwelche feindlichen Aktionen. Wir kamen aus Ländern, die nicht mal demokratisch sind, aus Polen und Russland, Marokko und Ägypten, und haben einen gemeinsamen Nenner gefunden. Wir haben die hebräische Sprache revitalisiert und dazu Agrikultur, Hightech und eine Armee geschaffen, die wir nicht unbedingt mögen, aber ohne die wir nicht hier wären. Es bricht mir das Herz, wie wir die Chance vertun, daraus das zu machen, wozu sie bestimmt war. Israel wurde gegründet, um eine Heimstatt der Juden zu werden, aber derzeit fühlen wir uns nicht heimisch.