Angela Merkel hat ihre Vorliebe für Lohnuntergrenzen entdeckt. David McAllister verteidigt den Kurswechsel der Kanzlerin im StZ-Interview.
Hannover - Niedersachsens CDU-Landeschef David McAllister hält nichts davon, stur an Standpunkten festzuhalten. Man müsse auf gesellschaftliche Strömungen reagieren. Prinzipientreue würden der CDU vor allem ihre Gegner abverlangen.
Herr McAllister, vor acht Jahren hatte die CDU in Leipzig ihren Reformparteitag. Kommende Woche wird sie sich dort für Mindestlöhne aussprechen. Wieso der Kurswechsel?
Ein Bundesparteitag dient dazu, eigene Positionen zu prüfen, weiterzuentwickeln oder sich neu zu orientieren. Dieser Leipziger Parteitag ist deshalb von besonderer Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen die Europa- und Bildungspolitik. Bildungspolitisch präsentieren wir einen umfassenden Leitantrag. Dieser gilt von der Geburt des Kindes bis zum Abschluss der Hochschulausbildung und zum anschließenden lebenslangen Lernen.
Beim Mindestlohn werden wir uns wohl darauf verständigen, eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Diese Lohnuntergrenze sollte dann von einer Kommission der Tarifpartner festgelegt werden. Das ist eine tarifliche und damit marktwirtschaftliche Lohnuntergrenze und eben nicht ein willkürlich festgelegter politischer Mindestlohn.
Woher rührt diese plötzliche Einsicht?
Lohnfindung ist keine Aufgabe des Gesetzgebers, sondern der Tarifpartner. Aber in einer sozialen Marktwirtschaft legt die Politik die Spielregeln fest und die Leitplanken, innerhalb derer sich Akteure zu bewegen haben. Ich bin nicht mehr bereit, soziale Verwerfungen im Niedriglohnbereich zu akzeptieren. Durch das Arbeitnehmerentsendegesetz und diverse Branchenmindestlöhne haben wir schon beachtliche Fortschritte erzielt. In manchen Branchen ist die Tarifbindung aber so schwach, dass die Tarifpartner allein nicht weiterkommen ...
... aber das ist doch nichts Neues. Warum ist heute richtig, was bisher als falsch galt?
Ihre Einschätzung ist nicht richtig. In der öffentlichen Debatte wurde fälschlicherweise das Nein der CDU zu gesetzlichen Mindestlöhnen gleichgesetzt mit einem generellen Nein zu Mindestlöhnen. Das ist aber unzutreffend. Auch wir sind für Mindestlöhne. Die ersten Mindestlöhne sind bereits vor 15 Jahren unter Bundeskanzler Helmut Kohl eingeführt worden. Seit 1996 besteht die Möglichkeit, über das Arbeitnehmerentsendegesetz für bestimmte Branchen Mindestlöhne über entsprechende Tarifverträge einzuführen.
Zu den ersten Branchen zählte das Bauhauptgewerbe. Aktuell gibt es in zehn Branchen Mindestlöhne. Alle bisher eingeführten Branchen-Mindestlöhne sind unter CDU-Kanzlern zustande gekommen: unter Helmut Kohl und unter Angela Merkel. Die CDU ist also schon immer dafür eingetreten, dass gute Arbeit anständig bezahlt wird. Eine angemessene Bezahlung hat auch etwas mit der Würde eines Menschen zu tun. Und ich halte manche Niedrigstlöhne, die in Deutschland gezahlt werden, schlicht und ergreifend für unwürdig.
Wer hart arbeitet, muss am Ende des Tages sich und seine Familie von seinem Einkommen ernähren können. Unsere Mitglieder sehen das genauso. Das haben zuletzt die Regionalkonferenzen gezeigt. Unseren Leuten an der Basis brennt das Thema unter den Nägeln. Sie sagen: Die Wirtschaft brummt, aber manche Menschen haben nichts davon. Das muss sich ändern.
Wurde die CDU da von der Gerechtigkeitsdebatte eingeholt?
Für die CDU hat Gerechtigkeit und Solidarität allein schon wegen ihrer christlichen Wurzeln einen ganz besonders hohen Stellenwert. Deshalb ist ja auch die These falsch, die CDU würde jetzt nach links rücken oder sich primär für neue Koalitionsoptionen interessieren. Die CDU ist eine Volkspartei. Und wenn die Menschen ein Thema besonders bewegt, müssen wir darauf reagieren. Genau das tun wir.
Mit der Energiewende hat die CDU Richtung Grüne geblinkt. Die Abschaffung der Wehrpflicht war Anliegen der FDP. Die Hauptschule, einst Erbgut der CDU, fördern sie nicht mehr. Der Mindestlohn ist ein SPD-Thema. Was bleibt von der CDU?
Wer glaubt, dass sich gesellschaftliche Veränderungen an Parteiprogrammen orientieren, der irrt. Volksparteien stehen immer vor der Aufgabe, gesellschaftliche Strömungen zu analysieren und zu prüfen, wie die Realität mit der eigenen Programmatik in Einklang zu bringen ist. Was nutzt ein klares Bekenntnis zur Wehrpflicht, wenn sich die Sicherheitslage fundamental verändert hat und ohnehin nur noch knapp ein Fünftel der jungen Männer eingezogen wurde.
Was nutzt denn ein klares Bekenntnis zur Hauptschule, wenn zu wenig Eltern bereit sind, ihre Kinder dorthin zu schicken. Fukushima war ein einschneidendes Ereignis von historischer Dimension. Dies zu ignorieren hätte bedeutet, sich fahrlässig über die Ängste der großen Mehrheit in Deutschland hinwegzusetzen. Die Welt dreht sich weiter, die Gesellschaft verändert sich. Häufig fordern übrigens gerade die, die es nicht gut mit der CDU meinen, von uns, Standpunkte von vor 30 Jahren zu verteidigen.
Die CDU will sich zudem als Europapartei profilieren. Worauf kommt es Ihnen an?
Europa liegt der CDU besonders am Herzen. Nicht ohne Grund hat die CDU europapolitisch einen deutlichen Kompetenzvorsprung vor den anderen Parteien. Das müssen wir deutlich machen. Der Abgleich der Interessen aller 27 EU- und 17 Eurostaaten mag nicht immer einfach sein. Aber kein Land hat mehr vom europäischen Einigungsprozess profitiert als Deutschland. Um die aktuelle Krise bewältigen zu können, müssen die europäischen Institutionen weiter gestärkt werden, insbesondere in der Wirtschafts- und Währungspolitik.
Es muss ein strengeres Durchgriffsrecht der Kommission und Sanktionsmechanismen geben für Staaten, die zwar unterstützt werden wollen, aber vereinbarte Auflagen nicht erfüllen. Auf der anderen Seite sollte auch überlegt werden, ob manche Aufgaben, die bereits auf die europäische Ebene verlagert worden sind, nicht doch besser von den Nationalstaaten, Ländern und Regionen bewältigt werden können. Nicht jedes Thema in Europa ist ein Thema für Europa. Die Subsidiarität ist ein ganz wichtiges Prinzip.
Europa soll reformiert werden, und die Nationalstaaten sollen zur Vermeidung künftiger Krisen Rechte abgeben. Wäre es da nicht notwendig, darüber das Volk zu fragen?
Darüber müssten wir erst nachdenken, wenn Fragen staatlicher Kernidentität betroffen wären. Das sehe ich nicht. Sollte es also zu weiteren Veränderungen der Verträge kommen, dann werden sich Bundestag und Bundesrat damit befassen müssen.
Haben Sie Angst vor dem Volk?
Nein. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind aber eindeutig: Solange die staatliche Souveränität nicht infrage steht, ist ein Volksentscheid nicht geboten. Das aber wird nicht geschehen. Denn es geht nur um die partielle Übertragung nationaler Rechte an europäische Instanzen. Das Grundgesetz regelt, dass Deutschland keine direkte, sondern eine repräsentative Demokratie ist. Damit sind wir bisher sehr gut gefahren. Die Entscheidungen zu Europa sind deshalb im Bundestag und im Bundesrat richtig aufgehoben.