Aber hat Winfried Kretschmann nicht recht? Wenn die Wahlverlierer mit dem Demonstrieren partout nicht aufhören wollen, wird die Stadt irgendwann unregierbar.
Nein, das ist vollkommener Unsinn. Wir haben in Stuttgart keinen Bürgerkrieg, und wir führen keine Straßenschlachten. Wir haben ein gut funktionierendes Gemeinwesen, das durch friedliche Bürgerproteste keineswegs lahmgelegt wird. Und dieses Gemeinwesen ist so funktionstüchtig, dass es sogar Fußball-WM, Volksfest und Weihnachtsmarkt in einem verkraften würde. Obwohl, wenn ich’s recht bedenke: Wenn anderswo Städte stillgelegt werden, in Kairo oder Tunis, sind wir voller Bewunderung – und wenn auch wir in Stuttgart je unregierbar werden sollten, schlage ich vor, dass wir uns einfach selber regieren . . .

Und was führt Sie zu der Einschätzung, dass der Protest weitergeht?
Die grandiose Stärke, Ausdauer und Kreativität, die diese Bewegung bisher ausgezeichnet hat! Selbst langjährige Aktivisten wie ich sind von diesem Potenzial völlig überrascht worden. Natürlich gibt es auch in unseren Reihen spinnerte, dumme und ignorante Menschen, die gibt’s überall. Aber wenn ich uns Protestler durchs Sieb schütteln würde, dann bliebe doch eine unglaubliche Menge an kreativen und ernst zu nehmenden Leuten übrig. Aus allen sozialen Milieus, allen Berufsgruppen – in dieser Fülle habe ich das in meinen mehr als fünfzig politisch aktiven Jahren noch nie erlebt.

Woher kommt die Fülle?
Lassen Sie’s mich an einem Beispiel erklären. Weil ich mit einer lauten Stimme gesegnet bin, rufe ich auf den Demos in die Menge rein: Wessen Stadt? Wessen Geld? Wessen Park? Und die Leute aus der Menge antworten im Chor: Unsere Stadt! Unser Geld! Unser Park! Und das trifft die Sache sehr genau: Die Protestbewegung vertritt keine partikularen, sondern allgemeine Interessen. Sie macht also etwas, was den klassischen Parteien mit ihrer Klientelpolitik schon längst nicht mehr zugetraut wird. Obendrein zielt das Engagement der Protestler auf positiv besetzte Dinge: Bahnhof retten und ökologisch und kundenfreundlich modernisieren, Natur bewahren, Geld sparen. All das hat mit dem Dagegen-Image, das man uns anheftet, nichts zu tun. Und all das führte zu der unglaublichen Breite des Protests.

Wäre so ein Engagement auch in einer anderen deutschen Stadt möglich gewesen?
Ich habe zehn Jahre in Dresden gelebt und mitgekriegt, wie sich der Widerstand gegen die Waldschlösschenbrücke formiert hat. Er ist im Lauf der Zeit gewachsen, aber nie so stark geworden wie in Stuttgart. Der Protest hier ist schon sehr spezifisch.

Warum?
Weil es uns in Stuttgart besser geht als in Dresden. Wir haben kein Elend, das Menschen in den Rechtsradikalismus abdriften lässt: Wir gehen nicht zum Türken, um ihn zu hassen, sondern um bei ihm gut zu essen. Wir haben hier also relativen Wohlstand – und das ist eine wesentliche Bedingung, um über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu können.

Sie stellen in Stuttgart sozusagen einen Überschuss an Energie fest . . .
 . . . und, nicht zu vergessen, auch einen Überschuss an Bewusstsein! Und dieses Überschüssige, das beispielsweise ein Werbemensch in seinem Job nicht nutzen kann, bringt er in den Protest ein. Hier kann er seine komplette Kreativität entfalten. Er suhlt sich in den Themen und in der Lust, diese Themen mit originellen Werbemitteln zu verbreiten. Und der kreative Überschuss ist dabei so groß, dass er auch in Zukunft nicht einfach verpuffen wird. Wenn sich die Resignation erst mal verzogen hat, kommen die Bürger als Citoyens wieder aus ihren vier Wänden heraus – zumal sich ihre Befürchtungen, dass S 21 Murks ist, ja bewahrheiten werden. Anders als andere soziale Bewegungen, die ich schon habe kommen und gehen sehen, wird der hiesige Protest bleiben und immer wieder neu aufflammen. Der Geist, der da aus der Flasche entwichen ist, kehrt nicht wieder in diese Flasche zurück.