Thomas Walther kommt als Ermittler zur Zentralstelle nach Ludwigsburg und denkt wie alle: Um Nazitäter zu verurteilen, braucht es einen Tatbeweis. Der Zorn eines US-Kollegen lässt ihn umdenken. Nun gibt der BGH ihm Recht: Wer in Auschwitz Wachmann war, hat Beihilfe zum Massenmord geleistet.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Montag haben viele Menschen gewartet: Holocaust-Überlebende ebenso wie deren Nachkommen. Oskar Gröning, der Buchhalter von Auschwitz, so die Karlsruher Richter, ist vom Landgericht Lüneburg zu Recht wegen Beihilfe zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt. Er war Teil der NS-Tötungsmaschine. Thomas Walther (73)hat für diese Sichtweise gekämpft wie kein anderer. Erst als Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer in Ludwigsburg, danach vor Gericht als Nebenklagevertreter der Holocaustüberlebenden. Nun ist er am Ziel.

 
Herr Walther, ernten Sie mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes die Früchte Ihrer Arbeit als Ermittler in Ludwigsburg?
Das ist immer so eine große Frage. Nachdem ich damals angefangen habe, ist ja viel Zeit vergangen. Viele Menschen haben in die eine oder andere Richtung daran mitgewirkt. Es gab aber auch andere, die auf die Bremse getreten haben – verschiedene Staatsanwaltschaften oder Gerichte.
Es gab viel Störfeuer.
Ja sicher. Das ist normal und war geringer als befürchtet. Doch wenn man jetzt von geernteten Früchten spricht, klingt das so religiös überhöht.
Was ist denn dann am Montag passiert?
Es ist ein Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof rechtskräftig beendet worden. Damit ist das Lüneburger Urteil gegen Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord bestätigt worden. Es wurden die Grundsätze des allgemeinen Strafrechts zur Frage der Beihilfe zu einem Verbrechen erkannt. Juristisch ist nichts Sensationelles geschehen. Es sind nur Rechts-Grundsätze auf diesen Fall korrekt angewendet worden.
Der Beschluss liest sich, als habe der BGH darauf gewartet, die Rechtsprechung eines Vorgängersenats weiterzuführen und ergänzen zu können. Darin hatte es geheißen, es reiche nicht für eine Verurteilung zur Mordbeihilfe, wenn man „irgendwie“ beteiligt war. Sehr wohl reiche es aber, wenn dem Angeklagten konkrete Handlungsweisen nachgewiesen werden, ergänzt der heutige Senat.
Das ist ja die faule Ausrede gewesen, mit der man Jahrzehnte nur nebulös und ganz selten überhaupt auf den Tatbestand der Beihilfe zum Mord zu sprechen gekommen ist. In welchen Staatsanwaltschaften hat man denn im Zusammenhang mit dem Massenmord an den Juden kritisch über diesen Satz nachgedacht? Da waren die Schwerpunktstaatsanwaltschaften Dortmund und München, zeitweise auch Köln. Und dann gab es noch die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Man hatte diese Irgendwie-Formulierung, die sich auf den Freispruch des Zahnarztes Schatz bezog, der sich auf der Rampe im KZ immer nur rumgedrückt und nichts Konkretes getan habe, als Banner vor sich her getragen. Man hat gesagt, „irgendwie“ reiche nicht. Man brauche immer konkrete Beweise. Die Zeugen aber fehlten. Man muss aber nur hinschauen und das „irgendwie“ ausfüllen.
Was hat die Juristen davon abgehalten?
Der Wille, nicht hinzuschauen? Gedankenlosigkeit? Bequemlichkeit? Faulheit? Und wie so oft im Leben wird es eine Mischung aus vielem und noch viel mehr gewesen sein. Viele Menschen haben mitgewirkt. Sie haben unterschiedliche Ansätze nachzudenken oder eben nicht. Da ist man dann schnell bei dem dogmatischen Ansatz, dass man sagt, man brauche für eine Anklage die unmittelbare Tatbeteiligung. Seit Montag heißt es: Nun ist alles anders. Dieses „Nun“ hat aber nur ganz am Rande etwas mit der BGH-Entscheidung zu tun. Denn das Recht ist nicht abhängig davon, dass der BGH das Recht in einem Beschluss formuliert. Das Recht war immer da. Nicht erst „nun“ nach dem 28. November.
Ist der Meilenstein der Rechtsprechung, von dem jetzt viele sprechen, nur ein Meilenstein der Rechtsanwendung?
Absolut. Es ist ein Meilenstein in einer Lebenswirklichkeit gesetzt worden, die durch jahrzehntelange Nicht-Anwendung der Rechtsregeln geprägt wurde. Aber die jetzige Rechtsanwendung war niemandem in der Zwischenzeit verboten. Im März 2008 habe ich erstmals mein ungutes Gefühl ausgesprochen, nachdem ich es ein Jahr mit mir rumschleppte. Ich ärgere mich ja im Grunde auch furchtbar über mich selber, dass ich so lange gebraucht habe.
Aber Sie haben den Wettlauf mit der Zeit gewonnen. John Demjanjuk ist zwar gestorben, bevor der BGH das Urteil bestätigen konnte. Im Fall des 95-jährigen Oskar Gröning hat die Zeit gereicht.
Das ist natürlich eine, jetzt nutze ich selber ein großes Wort, Erfüllung der Gedanken, die ich damals hatte. Ich war immer der Überzeugung, dass man wie schon im Studium nur Rechtsgrundsätze hätte anwenden müssen. Anders hätte ich den großen Strafrechtsschein an der Uni Hamburg als Student nicht bekommen.
Geht mit dem BGH-Entscheid jetzt das Signal aus, dass man in Deutschland gewillt ist, die Nazi-Täter wirklich zu verurteilen?
Der Sohn einer Mandantin aus den USA hat mir ein Foto von Donald Trumps engstem Berater im Weißen Haus geschickt, auf dem er diesem ein Schnurrbärtchen unter die Nase gemalt hat. Er sagt: „Dass in diesen so schrecklichen Zeiten dieses Signal von Deutschland ausgeht, die Ermordung unserer Angehörigen nun als Verbrechen geahndet und nicht als nicht aufklärbare Kriegsbegleiterscheinung abgetan wird, ist großartig. Das tröstet uns.“ Das mache ihm Mut in schwierigen Zeiten. Wir haben es ja um uns herum mit rechtspopulistischen Entwicklungen zu tun. Da ist diese rein rechtliche Betrachtung durch den BGH eine wohltuende Selbstverständlichkeit.
Melden sich Ihre Mandanten nun bei Ihnen?
Wir stehen in E-Mail-Kontakt. Ich habe Ihnen die Entscheidung gleich mitgeteilt. Die Reaktionen sind schon beeindruckend.
Wie sehen sie konkret aus?
Weil sie alle mit mir persönlich zu tun hatten, sind sie mir persönlich dankbar. Ich werde mit Segenssprüchen für den Rest meines Lebens überhäuft. Ich sehe bei diesen Menschen eine ganz große Erleichterung und die Befriedung diffuser Ängste. Sie leben mit immer wieder kehrenden Bildern, ohne dass diese Bilder auch nur den Versuch einer friedvollen Begrenzung erfahren haben. Diese friedvolle Begrenzung erleben sie jetzt. Der Auschwitzüberlebende Max Eisen, der in Lüneburg ausgesagt hat, hat in seinem fortgeschrittenen Alter etwas erfahren, was ihn innerlich zu Ruhe kommen lässt. Für die Menschen ist die Zeit ja 1944/45 in dem Bewusstsein stehen geblieben, dass sie allein gelassen sind.
Man hat Täter in fernen Ländern gesucht. Die Botschaft der letzten zwei Prozesse von Lüneburg und Detmold aber ist, dass die Täter Nachbarn sind. Verändert das die Sicht auf die Beteiligung am Völkermord?
Es ist eine andere und lebensnahe Sicht auf die Menschen, die als SS-Angehörige an der Judenverfolgung beteiligt waren.
Es gibt eine Liste, die 4700 Wachmänner für Auschwitz nennt.
Ja. Und diese Frankfurter Liste stand friedlich in zwei Leitz-Ordnern in Ludwigsburg in der Zentralen Stelle – gleich wenn man rein kam, rechts in einem Archivraum. Ich habe selbst mal nach einem Namen gesucht. Dabei fand ich den Verweis auf diese Frankfurter Liste. Ich habe sie auch mal in die Finger bekommen und mir dabei nichts weiter gedacht. Das war ganz am Anfang meiner Tätigkeit. Ich war ja so getrimmt, dass ich mit dem Namen und der bloßen Anwesenheit in Auschwitz keine unmittelbare Tatbeteiligung greifen konnte.
Was hat Sie umdenken lassen?
Ich bekam Ende 2006, gleich nachdem ich in Ludwigsburg angefangen hatte, einen Fall übertragen. Es ging um Elfriede Rinkel. eine Angehörige der SS-Wachmannschaften und Hundeführerin im KZ Ravensbrück. Sie war aus den USA aus- und nach Deutschland eingereist. Darüber haben wir von unserer US-Partnerbehörde, dem Office of Special Investigations (OSI), Mitteilung bekommen. Wir fanden ihren Aufenthaltsort heraus. Ich schaute in den Akten über das Frauen-KZ Ravensbrück nach, was über den Einsatz von Hundeführerinnen bei der Tötung von Gefangenen zu finden war. Entflohenen Häftlingen hat man von Hunden zu Tode beißen lassen. Die anderen Frauen mussten das mitanschauen. Aber ich fand nie den Namen Rinkel. Ich habe den Fall an die Staatsanwaltschaft Dortmund abgegeben. Mit dem Vermerk, dass man das Verfahren nur einstellen kann, weil wir keine unmittelbare Tatbeteiligung nachweisen können.
Zufrieden waren Sie damit sicher nicht.
Ich habe mich äußerst unwohl dabei gefühlt. Ich habe Eli Rosenbaum, den Leiter des OSI, gefragt, ob man uns Fälle wie diesen nicht früher melden könne, damit sie nach ihrer Ausweisung aus den USA nicht in Deutschland untertauchen können. Er konterte mit der Frage, ob wir nicht endlich die Möglichkeit schaffen könnten, ausgewiesene Personen auch wirklich in Deutschland anzuklagen und zu verurteilen. Diese Kritik hat dazu geführt, dass ich unbedingt gegen die Hundeführerin weiter ermitteln wollte. Als das nicht möglich war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Während der Suche nach der Frau bin ich auf den Fall John Demjanjuk gestoßen.
Er wehrte sich gegen die Abschiebung in sein Geburtsland, die Ukraine.
Da habe ich mir gesagt, das kann doch wohl nicht sein, dass wir nichts selber unternehmen müssen, wenn völlig klar ist, dass jemand im Vernichtungslager Sobibor, wo auf engem Raum mehr als 200 000 Menschen umgebracht wurden, als Wachmann Beihilfe geleistet hat. Ich dachte, dass man vielleicht mit Hilfe dieses Falles eine Anklage in Deutschlanderreichen könnte. Das war damals kurz vor der 50-Jahr-Feier der Zentralen Stelle in Ludwigsburg. Ich bekam den Auftrag, es zu versuchen.
Ihr Chef Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralen Stelle, hat sie machen lassen.
Ja. Das rechne ich ihm auch hoch an. Nachdem er mir den Auftrag mit den knappen Worten „Dann mach mal“ gegeben hat, bin ich eine Zeit später noch einmal zu ihm ins Büro und habe ihn gefragt: „Du weißt schon, was das bedeutet? Gesetzt den Fall, ich hätte unerwarteterweise Erfolg, hieße das, dass die Behörde in Ludwigsburg seit vielen Jahren etwas falsch gemacht hätte.“ Nach kurzem Nachdenken sagte er: „Dazu muss ich dann stehen.“ Dass es später immer hieß, die BGH-Rechtsprechung habe das Ermitteln verhindert, sehe ich anders.
Die Zentrale Stelle hat weitere acht Fälle ermittelt. Es geht um Wachmänner und Frauen, die in dem Lager Stutthoff eingesetzt waren. Ermutigt die BGH-Entscheidung, weiter zu ermitteln?
Ja. Aber wir haben viel Zeit verloren. Wir hätten in den vergangenen Jahren schon viel mehr machen müssen und nicht so lange auf eine Entscheidung des BGH warten sollen. Das einmal Gedachte hätte man auf viel mehr Fälle anwenden sollen. Also spätestens seit 2009, als eine Staatsanwaltschaft die Gedanken als Anklage formulierte.
Ist es für Sie noch von Bedeutung, ob Oskar Gröning inhaftiert wird?
Ich spreche da im Namen meiner Mandanten. Für sie ist das nicht wichtig – auch wenn es eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich ist, dass er ins Gefängnis muss. Es ist aber eher sekundär.