Sein Debüt „Agnes“ ist Abitur-Sternchenthema. Für seinen letzten Roman „Weit über das Land erhält der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm an diesem Donnerstag den Cottapreis der Stadt Stuttgart. Ein Gespräch über Sehnsucht und die Schönheit im Hässlichen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es gibt die Geschichte, dass Napoleon den Söldnern aus der Schweiz verboten hat zu singen, weil sie sonst Heimweh bekommen. Zur Zeit proben Schweizer Autoren den Ausstieg. Eben hat Lukas Bärfuss von einem Mann erzählt, der von einem Augenblick auf den anderen seinem Leben eine neue Richtung gibt. Zuvor hat bereits Peter Stamm den Protagonisten von „Weit über das Land“ auf eine Wanderung ins Ungewisse geschickt.

 
Herr Stamm, in Ihren Büchern stößt man auf eine merkwürdige Art der Sehnsucht, man weiß nicht so recht, ist es Heimweh oder eher das Gegenteil?
Das ist etwas Schweizerisches. Die Schweizer waren immer gezwungen wegzugehen, andererseits sind sie sehr mit der Landschaft verbunden. Wenn sie aus dem Ausland wiederkommen, gehen sie immer dahin zurück, wo sie aufgebrochen sind. Das hat auch mit den Dialekten zu tun, weil die so verschieden sind. In Bern fühle ich mich weniger zuhause als in Berlin. Wenn Schweiz, dann muss es schon meine Gegend sein.
Aber in Ihrem letzten Roman „Weit über das Land“ bricht ein Mann nach der Rückkehr aus dem Urlaub auf, um sein Leben hinter sich zu lassen. Wo will der hin?
Meine Theorie war immer, dass er weggeht, um die Zeit anzuhalten, weil er es nicht erträgt, dass sich alles verändert: dass irgendwann die Kinder aus dem Haus gehen, die Frau stirbt und am Ende er selbst. Im Grunde ist diese Flucht ein Versuch, das ewige Vergehen anzuhalten. Aber das ist nur so eine Theorie. Ich bestehe da nicht drauf.
Haben Sie über Ihre eigenen Bücher Theorien?
Ich werde mit meinem Roman „Agnes“ oft in Schulen eingeladen, ich bin da immer sehr vorsichtig mit Deutungen, weil ich Angst habe, dass es bei den Schülern nachher heißt: das hat der Stamm gesagt, das muss stimmen. Meine Lesart ist nur eine von vielen.
Meine Theorie zu „Weit über das Land“ ist, dass das Paar sich voneinander entfernen musste, um sich nah zu kommen. Weil das Leben in seiner Alltäglichkeit so dürftig ist.
Auch eine mögliche Lesart. Wozu sollten wir lesen, wenn wir nicht die Freiheit hätten, das herauszulesen, was wir wollen. Mein Debüt „Agnes“ sehe ich heute völlig anders als in der Zeit, in der ich den Roman geschrieben habe. Wenn Sie mich fragen, ob Agnes am Schluss tot sei: damals war sie es für mich wirklich, heute denke ich, eher nicht. Nicht, weil sich das Buch verändert hätte, sondern weil ich mich verändert habe, weil man mit dreißig anders liest als mit fünfzig.
Auch in Ihrem letzten Roman gibt es diese Unsicherheit. Aber die Lesart, dass sich irgendwann der Weg gabelt, und ihr Protagonist in der realen Welt stirbt, in der Imagination aber immer weiterläuft, ist doch sicher nicht falsch?
In einem Buch können eben auch Dinge geschehen, die in der Wirklichkeit nicht geschehen. In der Wirklichkeit würde man sagen, entweder er lebt oder er ist tot. Für mich ist das auch ein Buch über den Tod. Ich habe es einem Menschen gewidmet, der in dieser Zeit gestorben ist, meinem spanischen Verleger. Nachdem er gestorben ist, war er mir aber nicht weniger nah als vorher, im Gegenteil.
Es gibt kaum einen Autor, der von der Lizenz, die Dinge mit literarischen Mitteln umzubiegen, so sparsam Gebrauch macht wie Sie. Mit großer Meisterschaft beschreiben Sie eine eher unbehagliche Welt.
Ich habe lange in der Altstadt von Winterthur gewohnt, die ist sehr schön. Aber immer, wenn ich zum Bahnhof musste, bin ich sofort aus der Altstadt raus und außen rum gegangen, weil ich die Schönheit nicht ertragen habe. Auch so Städte wie Tübingen – das ist mir alles zuviel.
Was stört Sie daran?
Ich mag Orte, die ehrlich sind. Postkarten-Szenerien sind das in der Regel nicht. So ist das Leben nicht, da fühle ich mich nicht wohl. In einem Einkaufszentrum dagegen ist nichts beschönigt, das ist genau das, was es ist. Und das hat auch eine komische Art der Schönheit. Ich habe solche Zonen mal mit einer Naturlandschaft verglichen, weil sie auch so etwas Unorganisiertes haben. In meiner Erzählung „Seerücken“ lebt ein Mädchen im Wald. Später geht sie immer in die Industriegebiete, das ist ihr Waldersatz. Es gibt eine Schönheit der Ehrlichkeit. Ich will mich nicht täuschen lassen, sondern den Dingen auf den Grund gehen. Wenn sie hässlich sind, sind sie halt hässlich, dann mach ich sie nicht schön.
Ist das der Schlüssel zu Ihrem lakonischen, kargen Stil?
Eine Kritikerin hat mal gesagt, sie wünsche sich von mir mehr Nebensätze. Was für eine enge Ästhetik! Literatur ist oft recht konservativ, der Malerei gesteht man mehr Experiment zu.
Sie sind Ihrer Schreibweise treu geblieben, nachdem Sie sie einmal gefunden haben.
Stil hat auch mit Persönlichkeit zu tun. Ich hoffe schon, dass ich mich weiter entwickle, aber eben in einem Rahmen, der mir entspricht.
Einer der Ihnen immer wieder zugesprochenen Titel ist der eines Großmeisters des Scheiterns.
Auch da gibt es eine Art von Ehrlichkeit. Im Mittelpunkt meines Architektenromans „Sieben Jahre“ steht so ein ideales Paar, aber das ist ja dann auch wieder nicht echt. Ich behaupte aber, in allen meinen Büchern geht es den Leuten am Schluss besser, in gewissem Sinn selbst Agnes – wenn man davon ausgeht, dass sie nicht tot ist.
Das Gespräch führte Stefan Kister.