Der SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann wirbt im Interview für einen EU-Verbleib der Briten. Falls sie aber gehen, soll die Eurozone die Flucht nach vorn antreten.

Berlin -

 
Herr Oppermann, Sie waren kürzlich in London. Wagen Sie nun einen Tipp, wie das EU-Referendum am 23. Juni ausgeht?
Ich rechne mit einer knappen Mehrheit gegen den Brexit. Beim Buchmacher Ladbroke lauten die Wetten derzeit sechs zu eins gegen den Brexit! Am Ende werden wirtschaftliche Vernunft und Eigeninteresse stärker sein als der ideologisch motivierte Wunsch nach einem britischen Sonderweg.
Die Gegner meinen, man werde dem Nicht-EU-Land Großbritannien Sonderkonditionen einräumen.
Wenn die Briten austreten, wird es für Großbritannien sicher keine Extrawürste geben. Nicht weil wir uns dann revanchieren wollen würden, sondern weil es zu unerwünschten Nachahmungseffekten führen könnte. Wir werden keinen Zweifel daran lassen, dass der Austritt aus der EU nicht noch belohnt wird. Ein Brexit würde Großbritannien aus verschiedenen Gründen schwer treffen. Es würde aus dem Binnenmarkt ausscheren, wohin 44 Prozent des Handels gehen. Und um als Nicht-EU-Mitglied weiter Marktzugang zu haben, müssten die Briten wie die Norweger und Isländer sämtliche Binnenmarktvorgaben umsetzen, ohne auf diese irgendwelchen Einfluss zu haben. Zudem würde Großbritannien international erheblich an Gewicht verlieren.
Wie haben Sie die Stimmung gegenüber Europa und Deutschland wahrgenommen?
Die Brexit-Befürworter machen Stimmung gegen Deutschland. Wir werden als dominante EU-Wirtschaftsmacht empfunden, die in vielen Fragen den Takt vorgibt. Es gibt starke Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Sie wird verantwortlich dafür gemacht, dass Millionen Flüchtlinge nach Europa gekommen sind – und die Brexit-Befürworter schüren Angst und suggerieren, dass diese Flüchtlinge nach Großbritannien weiterreisen könnten.
Was würde ein „No“ für uns in Deutschland bedeuten?
Die unmittelbaren außenpolitischen Folgen scheinen weniger dramatisch als zuweilen öffentlich geäußert. Großbritannien wird weiter Mitglied in den westlichen und gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen von Nato und OSZE bleiben. Auch als Mitglied im UN-Sicherheitsrat wird sich London wie bisher mit den Partnern abstimmen. Allerdings habe ich zwei große Sorgen. Erstens: Die EU würde kurzfristig international an Gewicht und Bedeutung verlieren. Darunter würden alle leiden. Zweitens: Der Brexit könnte der Beginn eines Auflösungsprozesses der EU sein. Das müssen wir verhindern.
Können Sie das konkretisieren?
Ein Brexit wäre zwar in jedem Fall eine enorme Schwächung, aber wir müssten ihn dann– obwohl es paradox klingt – als Chance sehen und die Flucht nach vorn antreten, um die EU zu festigen.
Was wird dazu in der Regierung diskutiert?
Momentan ist das Ziel, den Brexit zu verhindern. Unabhängig davon ist es richtig, die Eurozone so zu vertiefen, dass wir einige gravierende Dauerprobleme endlich vernünftig lösen können. Dazu gehört für mich, dass wir in der Währungsunion große wirtschaftliche Schwankungen haben, ohne über die Instrumente zu verfügen, um darauf zu reagieren. Wir sollten uns dann auf ein Eurozonen-Budget verständigen, das wir für solche politischen Ziele einsetzen.
Bei der immensen Bedeutung verwundert, dass nicht aktiv geworben wird, wie es Barack Obama getan hat.
Ich würde am liebsten offensiv die „Remain“-Kampagne unterstützen. Aber das wäre mit Blick auf die starke Stellung der Deutschen in der EU wahrscheinlich Wasser auf die Mühlen der Brexit-Befürworter. Obama hat es da leichter, da ihm keine direkten Interessen unterstellt werden.
Warum sind Sie dann nach London gereist?
Ich wollte mir einen unmittelbaren Eindruck verschaffen. Meine Gespräche haben mir gezeigt, wie schwierig die Lage unabhängig vom Ausgang des Referendums sein wird. Es wird in jedem Fall knapp, und damit wird die britische Nation in der Europafrage weiter gespalten bleiben. Das bliebe auch bei einem Ja zur EU ein lähmender Faktor.
Sie reden von Lähmung mit den Briten und Flucht nach vorn ohne sie. Wünscht sich der Sozialdemokrat doch einen Austritt der wirtschaftsliberalen Briten ?
Ein sozialeres Europa wird es nur in einem wirtschaftlich stärkeren Europa geben – und für Letzteres brauchen Sie die Briten.