Jürgen Moltmann hat die deutsche Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg wie kaum ein anderer geprägt. Am 8. April feiert er seinen 90. Geburtstag. Ein Gespräch über Leben und Tod.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Tübingen – B - ei der Terminabsprache warnt der 89-jährige Jürgen Moltmann: „Viel länger als eine Stunde können wir nicht miteinander reden, dann werde ich müde.“ Nun sitzt er in seinem Lesezimmer und wirkt hellwach. Seit einem halben Jahrhundert lebt der evangelische Theologe in Tübingen, doch seinen Wurzeln entsprechend ist sein Habitus hanseatisch.
Herr Moltmann, ich habe als Vorbereitung auf dieses Interview Ihr 1964 erschienenes Buch „Theologie der Hoffnung“ gelesen, das sich auf die Auferstehung Jesu bezieht. Wenn ich Ihren Grundgedanken richtig verstanden habe, erwarten Sie eine Welt, in der die Menschheit schrittweise ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens vorwegnimmt – das Reich Christi. Erleben wir nicht gerade das Gegenteil davon: zunehmende Ungerechtigkeit und grausame Kriege?
Das ist eine pessimistische Sicht, denn es sind ja bereits politische, weltverändernde Zeichen und Wunder geschehen. Niemand hatte die deutsche Einheit erwartet, und plötzlich war sie da. Ihren Ausgangspunkt, das sollten wir nie vergessen, hatte diese gewaltfreie Revolution in Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche. Und auch die Überwindung der Apartheid in Südafrika ist ein Beispiel dafür, dass auf dieser Welt überraschend Positives passiert.
Das sind zwei positive Veränderungen, denen ich viele negative entgegenstellen könnte. Sie kamen 1967 als Theologieprofessor nach Tübingen – ist die Welt heute tatsächlich näher an Ihrem Ideal als damals?
Wie es um die Welt steht, kann nicht ich beurteilen, das kann nur Gott. Wir befinden uns sicherlich in einer sehr gefährlichen Phase. „Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, hat Friedrich Hölderlin vor bald 200 Jahren treffend formuliert. Wir wären nicht so enttäuscht über die Entwicklungen auf dieser Welt, wenn wir nicht auch Hoffnung hätten, dass sich alles zum Guten wenden kann.
Meine Hoffnung schwindet. Ich befürchte, dass die Menschheit dabei ist, sich selbst zu vernichten. Haben Sie diese Angst nicht?
Angst ist eine Vorwegnahme des Terrors, Hoffnung ist eine Vorwegnahme der Freude. Ich bevorzuge die Hoffnung. Die Angst vor einem wie auch immer gearteten Weltuntergang lähmt uns, nichts befördert einen Weltuntergang so sehr wie die Angst vor ihm. Man muss die Angst in sich überwinden, und das geht nur über die Kraft der Hoffnung. Als der Philosoph Ernst Bloch 1961 nach Tübingen kam, hielt er einen Vortrag mit dem Titel: „Kann Hoffnung enttäuscht werden?“. Bloch machte klar, dass nur derjenige, der hofft, enttäuscht werden kann. Man überwindet die Angst, indem man Enttäuschungen akzeptiert und das Leben liebt. Nichts zu hoffen bedeutet nicht zu leben.
Fest steht für mich, dass der Sozialutopist Bloch von der heutigen Welt tief enttäuscht wäre: Auf der einen Seite wird sie von ausuferndem Kapitalismus bestimmt, auf der anderen Seite von religiösem Fanatismus.
Mag sein. Aber fast die halbe Welt wurde einst vom Kommunismus beherrscht und ist daran nicht zugrunde gegangen. Der Kommunismus ist nun fast verschwunden, warum sollte das nicht auch mit dem – wie Sie sagen – ausufernden Kapitalismus und dem religiösen Fanatismus geschehen?
Bloch wollte, dass die Menschen und die Natur nicht ausgebeutet werden. Auch von diesen Zielen sind wir weiter entfernt denn je.
Mein Freund Johannes Rau pflegte zu sagen: Die Welt liegt im Argen. Aber da muss sie nicht liegenbleiben. Wir alle können die soziale Gerechtigkeit fördern und uns in der ökologischen Bewegung engagieren. So wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika sagte: „Höre auf den Schrei der Erde und höre auf den Schrei der Armen!“