Kultur: Stefan Kister (kir)


„Amor ist der Feind der Musen“, hat Boccaccio, ein anderer Erotomane der Weltliteratur, einmal gesagt.
Das ist so. Aber ganz ohne Erotik kommen auch die Musen nicht aus.

Ist der Körper ein Verhängnis?
Er ist Verhängnis, aber auch Glück und Möglichkeit – wunderbare Möglichkeiten stecken darin.

Sie führen diese beiden Seiten aber bisweilen auf eine ganz entsetzliche Weise ineinander, etwa in einer Szene, in der der Liebesakt zweier Häftlinge eines deutschen Gefangenenlagers in unvorstellbaren Grausamkeiten kulminiert.
Aber diese Szene stammt nicht von mir. Im Zweiten Weltkrieg wurden 50 Millionen Menschen getötet. Ich habe in meinem Leben noch nie einen Menschen getötet. Ich beschreibe nur. Ich bin der Bote. Ich führe in die Schattenseiten der Menschen hinein, um zu zeigen, dass auch dort nicht nur Dunkelheit und Gewalt herrschen, sondern Momente des Glücks, der Rettung, der Befriedigung. Beide Seiten gehören unverbrüchlich zusammen.

Der größte Teil Ihres Romans ist nach 1989, unter politisch freien Verhältnissen, entstanden. War das die Voraussetzung für eine – verglichen mit ihrem früheren Werk – formal und inhaltlich radikalere Schreibweise?
Das hieße, dass Romane und Gedichte nur in Freiheit entstehen. Das ist aber nicht so. Ich habe früher weniger auf die Zensur als auf meine Landsleute Rücksicht genommen. Andererseits war ich selbst noch nicht so weit. Die konventionellen Formen der Romanliteratur gehen davon aus, dass wir Lebensläufe haben. Die gibt es aber nicht, sondern nur Ansätze, Hoffnungen, Brüche. Über manche wissen wir Bescheid, bei anderen spüren wir nur, dass etwas nicht stimmt. Lebensläufe sind unabgeschlossen, ein kontinuierlicher Verfall mit offenem Ende. Dieser Erkenntnis habe ich mich wie einem Forschungsexperiment ausgesetzt. Und bei aller Radikalität war ich dabei noch rücksichtsvoll. Ich habe keine Lust an negativen Dingen. Je älter ich werde, desto mehr setzt mir menschliches Leiden zu.

Ihr Roman entwirft ein Bild der Geschichte. In Ihrer Heimat Ungarn wird die Vergangenheit derzeit neu entworfen: nationalistisch unter dem Zeichen der Stephanskrone.
Es ist ein interessanter Rückfall, den mein Land erlebt. Wahrscheinlich ist er unumgänglich. Wir sind in Ungarn an einem Punkt angekommen, an dem die Feinde der Demokratie gelernt haben, die demokratischen Freiheiten ihren Zielen zu unterwerfen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán macht sich die Möglichkeiten des Grundgesetzes geschickt zunutze, um seine Macht zu zementieren. Eine Zweidrittelmehrheit ist nun einmal eine Zweidrittelmehrheit. Ich kann meine Landsleute nicht dafür tadeln, dass sie denken, was sie denken – auch wenn ich etwas völlig anderes denke. Auf solche Entwicklungen sind junge Demokratien immer unvorbereitet. Das war in der Weimarer Republik so. In Ungarn ist das heute nicht anders.