Kultur: Stefan Kister (kir)


Und was erwarten Sie?
Wenn in einer Gesellschaft keine demokratische Traditionen da sind, dann müssen sie eben von irgendwoher kommen. Sie werden nicht aus der Luft, dem Blut oder von Gott erschaffen, sondern einzig durch Erfahrungen, auch aus schlechten. Gerade macht mein Land eine sehr schlechte Erfahrung. Was daraus wird, weiß ich nicht. Viktor Orbán ist ein guter Taktiker, aber ein miserabler Stratege. Sein Problem ist, dass er seine Möglichkeiten überschätzt, nicht nur gegenüber Europa, sondern auch innenpolitisch.

Warum ist ihm die ungarische Gesellschaft auf den Leim gegangen?
Es ist in Ungarn in den letzten zwanzig Jahren nicht gelungen, stabile gesellschaftliche Strukturen auszubilden. Sie existieren allenfalls im Ansatz: einer großen Schicht Armer und Verarmter steht eine kleine Elite Superreicher gegenüber, die in das Orbánlager hinüber gewechselt ist. Die Mittelklasse ist schmal und bröckelt seit 2004 immer mehr. Sie leidet unter der wirtschaftlichen Stagnation. Aber in Zeiten der Globalisierung Kapital anzuhäufen und gleichzeitig wettbewerbsfähig zu sein, das ist wie die Quadratur des Kreises. Ohne eine starke Mittelschicht bleibt eine Gesellschaft schwach. Die Wähler wechseln wie Herdentiere die Parteien. Anzubieten hat die eine so wenig wie die andere. Vor zwanzig Jahren haben die Menschen geglaubt, dass der ganzen Region eine blühende Zukunft bevorsteht. Das war naiv. Man hat seit 1989 viel erreicht, aber nicht eine wettbewerbsfähige moderne Gesellschaft.

Das erste Kapitel Ihres Romans beginnt im Jahr 1989. Wie haben Sie das erlebt?
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat meine Gesellschaft völlig umgeschichtet. Fast nichts ist geblieben. Ich bin kein Nostalgiker. Ich habe mich 1989 sehr gefreut. Aber das war der zweite Neuanfang binnen fünfzig Jahren. Und das ist viel – vielleicht zu viel für den Menschen, der sich nach Kontinuität sehnt, der Sicherheit möchte, unveränderte Zustände, der an seiner Straße hängt und an Bäumen, die nicht gefällt werden dürfen. Das rechtfertigt die regressive Entwicklung in meinem Land nicht, aber es erklärt sie ein wenig.

Sie werden zu Lebzeiten in eine Reihe mit Proust, Musil oder Tolstoi gestellt, sie haben Reiche aufsteigen und untergehen sehen. Nach einem Herzinfarkt waren Sie für dreieinhalb Minuten im Totenreich. Gibt es überhaupt noch etwas, was Sie erschrecken kann?
Natürlich. Wenn Sie sich in der Nacht von hinten anschleichen und mir ins Ohr schreien, dann bin ich erschreckt.