Über 1700 Seiten ist sein neuer Roman stark: „Parallelgeschichten“. Im Interview spricht Péter Nádas über Geschichte und den Abbau der Demokratie in seiner Heimat.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Péter Nádas hat sich in seinem Werk an die dunkelsten Ränder der Geschichte begeben. Deren literarische Bändigung hat ihn ein halbes Leben gekostet. Jetzt war der siebzigjährige Autor im Stuttgarter Literaturhaus zu Gast. Im Interview erzählt er vom Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner Tierheit – und von den politischen Verhältnissen unter dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán.

 


Herr Nádas, Sie haben einem wahren Lebenswerk, ihrem „Buch der Erinnerungen“, an dem Sie zehn Jahre geschrieben hatten, mit „Parallelgeschichten“ gleich das nächste folgen lassen; an dem Sie wiederum achtzehn Jahre gearbeitet haben . . .
Das sind zwei schwere Gefängnisstrafen nacheinander.

Droht eine Verlängerung dieser Strafe?
Nein, ich bin begnadigt, ich muss nicht mehr ins Gefängnis.

Was Sie in Ihrem Gefängnis geschaffen haben, nimmt den Leser seinerseits gefangen. Besser gesagt: es überwältigt ihn mit einer wilden, überbordenden Fülle von Menschen, Körpern und Katastrophen.
Ziemlich chaotisch, nicht wahr? Aber alles Organisierte wird schnell durchschaubar. Mit konventionellen Formen und Prinzipien kommen wir nicht weit. Sie blockieren Gedanken und Gefühle. Man muss sich von ihnen verabschieden und neu anfangen.

Der große Romantheoretiker Georg Lukács, ein Landsmann von Ihnen und in jene ungarische Geschichte, die Ihr Buch umfasst, selbst tief verstrickt, hat einmal gesagt: Die Problematik der Romanform ist das Spiegelbild einer aus den Fugen geratenen Welt.
Romane halten mit dem Weltzustand einen sehr engen Kontakt. Wir sind alle Kriegsversehrte, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Nicht jene beschäftigen sich damit, die das erlebt haben, sondern die Nachkommen, die all die Folgen erdulden müssen. Ich habe nur Chaos, Durcheinander und Wunden vorgefunden. Nichts anderes. Man verschließt in jungen Jahren davor die Augen. Man wird biologisch vorangetrieben, gründet eine Familie, zeugt Kinder, verlässt die Familie, verliebt sich neu. Aber man kann auf Dauer nicht mit so geblendeten Augen durch die Welt gehen, dass man nicht sehen würde, was hier im zwanzigsten Jahrhundert in den zwei großen Diktaturen vorgefallen ist.

In Ihrem Roman erfährt man aber mindestens so viel über die Geschichte wie über den eigenen Körper.
Das ist nicht voneinander zu trennen. Außerhalb des Körpers gibt es kein Leben. Über die Körper ist man mit der Außenwelt verbunden. Und diese Körper bestehen nicht nur aus Köpfen, sondern zum Beispiel auch aus Därmen, die arbeiten müssen.