Das Erlernen der Sprache der Vorfahren nützt den Migrantenkindern, gehört aber in staatliche Obhut, sagt die Heidelberger Professorin Havva Engin.

Stuttgart - Havva Engin kam 1974 mit sechs Jahren als Tochter eines türkischen Arbeitsmigranten nach Deutschland. Inzwischen hat sie eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg inne und leitet das Heidelberger Zentrum für Migrationsforschung und Transkulturelle Pädagogik. Sie wirbt für einen Modellversuch zur Einführung eines staatlichen herkunftssprachlichen Unterrichts.

 
Frau Professor Engin, welche Bedeutung hat der Unterricht in der Herkunftssprache für die Sprachkompetenz von Kindern aus Migrantenfamilien?
Die aktuelle IQB-Bildungstudie hat für die Grundschulen in Baden-Württemberg im Vergleich zu anderen Bundesländern signifikant schwache Ergebnisse in den Bereichen Zuhören und Lesen aufgezeigt. Der Grund dafür liegt insbesondere in Sprachdefiziten von Kindern mit Zuwanderungshintergrund. Diese Kinder müssen deshalb besser gefördert werden. Ein wichtiger Ansatz ist, die Herkunftssprachen dieser Schüler für ihre allgemeine sprachliche Entwicklung fruchtbar zu machen.
Stützt der Unterricht in der Herkunftssprache die Identitätsbildung – oder führt er eher zur Persönlichkeitsspaltung?
Die Forschungsergebnisse bestätigen die sehr positiven Effekte von Kenntnissen in den Herkunftssprachen auf die Deutschkompetenz. Dieser Unterricht nützt der Persönlichkeitsentwicklung. Er steigert die Lernmotivation.
Wie geht das?
Wenn die Herkunftssprache zum Unterrichtsfach wird, dann wird sie von den Schülern und deren Eltern – wie eine Fremdsprache – als Bildungsressource erkannt. Das hat auch etwas mit Anerkennungskultur zu tun. Schüler mit Migrationshintergrund werden nicht mehr aus der Defizitperspektive betrachtet, sie erfahren mit ihrer Zweisprachigkeit eine positive schulische Aufwertung.
Das klingt es aber eher so, als zielten sie auf die Herkunftssprache als reguläres Schulfach ab. Bisher wird das in Baden-Württemberg über den Konsulatsunterricht organisiert.
Der Konsulatsunterricht ist weder zeitgemäß, noch entspricht er den tatsächlichen bildungsbiografischen Erfordernissen von Migrationsschülern. Man muss davon ausgehen, dass er keine positiven Effekte auf die schulischen Leistungen hat.
Blicken wir konkret auf den türkischen Konsulatsunterricht: Schwächt er nicht eher die Integrationsfähigkeit der Kinder?
Ich kenne dazu keine Forschungen. Allerdings unternahm ich 2014/2015 im Rahmen eines Projekts eine Fragebogenaktion mit türkischsprachigen Schülerinnen und Schülern, die den türkischen Konsulatsunterricht in Baden besuchten. 67 Prozent der Befragten gaben an, den Unterricht gern zu besuchen, 57 Prozent sagten, dass ihnen der Unterricht beim schulischen Lernen generell hilft. Nachteile konnten wir keine herausfinden.
Würde ein muttersprachlicher Unterricht innerhalb des staatlichen Schulsystems angenommen?
Ja, er würde meiner Ansicht nach sogar besser angenommen werden, da er endlich benotet und damit versetzungsrelevant würde. Bisher bildet sich der Besuch des Konsulatsunterrichts auf dem Zeugnis – außer als kurzer Vermerk – nirgends als eine schulische Leistung ab.
Wie wäre der Schulunterricht ins Werk zu setzen?
Für die Grundschulen ist anzustreben, den herkunftssprachlichen Unterricht als Sprach-Begegnungsfach im Umfang von wöchentlich zwei Unterrichtsstunden durchgehend anzubieten. Das könnten Lehrkräfte übernehmen, die in Deutschland studiert und die Lehrbefähigung erhalten haben. Sie könnte durch eine einjährige Fortbildung für den Unterrichtseinsatz in der jeweiligen Herkunftssprache qualifiziert werden.