Lena Gorelik kam als Elfjährige als jüdische Kontingentsflüchtling mit ihrer Familie aus St. Petersburg nach Ludwigsburg. Inzwischen ist sie eine bekannte deutsche Schriftstellerin.

Ludwigsburg -

 
Kürzlich besuchte sie jene Ludwigsburger Flüchtlingsunterkunft, in der sie die ersten anderthalb Jahre auf deutschem Boden verbracht hatte. Den Stacheldraht, der die Gebäude seinerzeit einzäunte, gibt es nicht mehr – nun ist es ein einfacher Metallzaun. Und auch die Holzbaracke, in der Lena Gorelik mit ihrer Familie lebte, ist längst abgerissen. Doch die einst weißen, mittlerweile ergrauten zweistöckigen Wohnheime ringsum stehen noch immer. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin, die bisher fünf Romane und zwei Sachbücher veröffentlicht hat, ist sich bei dieser Reise in die Vergangenheit selbst als Kind begegnet.
Frau Gorelik, was empfinden Sie, wenn Sie Schwäbisch hören? Der Dialekt war ja das Erste, was Ihnen nach Ihrer Ankunft in Ludwigsburg als Deutsch verkauft wurde.
Nach dem Abitur in Ludwigsburg zog ich nach München und habe da so ein bisschen Bayrisch gelernt, und dann nach Hamburg, wo sich alle gleichermaßen über das Schwäbische wie das Bayrische lustig machten. Wenn ich „Grüß Gott“ sagte, bekam ich als Antwort „Mach ich, wenn ich ihn sehe“. Daraufhin habe ich dann beide Dialekte bewusst abgelegt. Wenn ich jetzt Schwäbisch höre, ist das amüsant und eine sanfte Erinnerung an meine Kindheit.
Sie kamen 1992 mit Ihren Eltern, Ihrer Großmutter und Ihrem Bruder aus der von zunehmendem Antisemitismus geprägten, zerfallenden Sowjetunion nach Deutschland und lebten zunächst anderthalb Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft. In Ihrem 2004 erschienenen, ersten Roman „Meine weißen Nächte“ haben Sie diese Zeit literarisch verarbeitet, „witzig und melancholisch zugleich“, wie ein Kritiker schrieb. Mussten Sie diesen Tonfall suchen, oder war er immer schon da?
Mein Tonfall ist eine Art Automatismus bei mir. Das liegt sicher daran, dass in meiner Familie, und das ist vielleicht das Jüdische an ihr, versucht wurde, immer auch einen humorvollen Blick auf die Dinge zu behalten, selbst wenn es gerade nicht so einfach war. Alles, wonach man beim Schreiben suchen muss, kann nicht gut werden, glaube ich. Es muss natürlich kommen.
Kürzlich haben Sie in der „Süddeutschen Zeitung“ einen sehr offenen Erinnerungstext an die erste Zeit in Ludwigsburg veröffentlicht. Trug die unübersehbare aktuelle Not vieler Flüchtlinge zu der Entscheidung bei, die äußeren und inneren Orte ihrer Ankunft noch mal aufzusuchen?
Ja, mit Sicherheit. Der erste Anstoß dazu war, dass ich nach einer Lesung in Ludwigsburg an dem Platz vorbeigelaufen bin, wo dort früher die Synagoge stand. In diesem Moment dachte ich daran, dass es in den neunziger Jahren, als ich nach Deutschland gekommen war, unter anderem dort diese vielen Lichterketten gegeben hat, die es heute nicht mehr gibt. Es gibt natürlich ganz viel Engagement, aber nicht diese Form der öffentlichen Gegenbewegung. Und dann dachte ich an die Flüchtlingsunterkunft, in der wir damals untergebracht waren, und fand, es wäre Zeit, da mal hinzugehen.
Was ging Ihnen dort durch den Kopf?
Es war ein Moment, in dem mir nichts durch den Kopf ging, sondern in dem ich einfach nur empfunden habe. Wie beschreibe ich das? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es mich so sehr mitnehmen würde, ich hatte erwartet, dass ich da ankomme, und meine Vergangenheit als Flüchtlingskind, nach all dem, was seither geschehen ist, mit einem gewissen Abstand sehen kann. Aber es war so, als wäre ich exakt wieder das Kind, das da gelebt hat. Ein Analytiker könnte die Situation herrlich auseinandernehmen. Es gab keine Trennung zwischen dem Kind-Ich und dem Jetzt. Ich war vollkommen diesem Gefühl wieder ausgeliefert, dem Menschen, der ich früher war.
Können Sie dieses Gefühl näher beschreiben?
In erster Linie ist es ein Sich-falsch-Fühlen. Sich fremd fühlen, nicht wissen wohin. Nicht viel wert sein oder seinen eigenen Wert nicht kennen. Sich schämen, für das, was man ist. Ein Sammelsurium an Gefühlen.
Hat Ihre eigene Situation als Mutter – Sie haben zwei kleine Söhne – Ihren Blickwinkel auf das, was Sie damals erlebten, verändert?
Ich habe mich mehr gefragt, wie das für meine Eltern gewesen sein muss, ihre Kinder in ein Flüchtlingsheim zu bringen, sie tagtäglich hinter diesem Stacheldraht zu sehen. Ohne zunächst die Sprache und die Regeln des Landes zu verstehen, sich um die Zukunft von Sohn und Tochter dort zu sorgen. Das hatte ich mich früher nie gefragt, da hat mich eher interessiert, wie es mir selbst mit der Situation ging, um meine eigenen Erinnerungen.
Scham angesichts des eigenen Fremdseins spielt in Ihren Beschreibungen öfter eine Rolle. Hat es auch etwas Befreiendes, darüber zu schreiben, eine Form dafür zu finden und damit den anderen, die einen beschämen – sicher oft, auch ohne das zu wollen – den Spiegel vorzuhalten?
Ich weiß nicht, ob man sich von der Scham befreien kann. Die Scham von damals ist ein Gefühl, das bleibt. Ich glaube nicht an Schreiben als Therapie, ich glaube, dass die meisten Autoren über Dinge schreiben, die sie beschäftigen, und diese persönliche Gefühlswelt macht oft die Stärke der Texte aus. Ich schreibe Dinge auf, weil ich sie wichtig finde. Was den Text über die Rückkehr in Flüchtlingslager betrifft: Das wollte ich erzählen im Kontext dessen, was gerade in unserer Gesellschaft passiert. Damit andere besser verstehen, was in jemandem vorgeht, der hier ankommt und in ein Containerdorf gesteckt wird. Und in dem Moment offenbare ich natürlich auch meine Seele und stelle mich bloß, das war mir als großer Schritt bewusst.
Braucht man Mut, um diesen Schritt zu wagen?
Es gibt einen bestimmten Preis, den man dafür zahlt, und der ist immer: ich. Nach den zahlreichen Reaktionen, die ich bekomme, finde ich: Ja, es hat sich gelohnt. Und dennoch: Der Preis dafür ist dieses Sich-für-andere-nackt-Machen. Das war keine bewusste Entscheidung, sondern ähnlich wie der Mut, den man beim Sprung vom Drei-Meter-Brett aufbringt. Ich war in der Flüchtlingsunterkunft meiner Kindheit. Ich habe aufgeschrieben, was ich dort empfand. Das hat Kraft gekostet, aber keinen als solchen bewusst gefassten Mut.