Nach dem Anschlag von Berlin und den Morden im Breisgau: Freiburgs Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) spricht über die Kriminalität von Flüchtlingen und Hass-E-Mails, die Verunsicherung der Bevölkerung und die vermeintliche Idylle einer Großstadt.

Freiburg - Der Mord an einer 19-jährigen Medizinstudentin durch einen minderjährigen unbegleiteten Flüchtling hat Freiburg bundesweit in den Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit gerückt. „Risse im Idyll“, lauteten die Schlagzeilen, mit denen Oberbürgermeister Dieter Salomon (Grüne) plötzlich konfrontiert war. Welche Schlüsse sind aus dem dramatischen Fall zu ziehen? Wie hat sich der Umgang mit Flüchtlingen verändert? Welche Erfahrungen macht der Rathauschef. „Freiburg war, ist und bleibt kein Idyll, aber eine weltoffene Stadt“, sagt Salomon.

 
Herr Salomon, so oft wie in den vergangenen Wochen war Freiburg noch nie bundesweit in den Schlagzeilen. Hätten Sie sich einen schöneren Anlass gewünscht?
Auf diesen Anlass hätte ich in der Tat komplett verzichten können. Der Mord in Freiburg selbst und ein weiterer in Endingen am Kaiserstuhl haben zu einer großen Verunsicherung vor allem unter der weiblichen Bevölkerung geführt. Für Außenstehende ist Freiburg in ein wenig schmeichelhaftes Licht gerückt worden.
Der Tenor der Berichterstattung in den überregionalen Medien lautete: „Risse in der Idylle“. Empfinden Sie das ebenso?
Mich stören solche klischeehaften Stereotypen. Pardon, aber Freiburg war noch nie eine Idylle. Freiburg ist eine Großstadt mit mehr als 220 000 Einwohnern und hat seit jeher die sozialen Probleme einer Großstadt, auch im Hinblick auf die Kriminalität. Auch früher hat es hier schon Morde, Raubüberfälle und Taschendiebstähle gegeben. Mein Versuch, zu einer Objektivierung beizutragen, hat aber auch nur bedingt funktioniert: Freiburg wurde plötzlich auf eine Stufe gestellt mit Köln. Beide Betrachtungen sind nicht richtig.
Ihnen fehlt die Differenzierung?
Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass jede Aussage dramatisch zugespitzt werden kann. Wenn ich sage, die Stadt ist trotz allem sicher, gilt das als Verharmlosung. Wenn ich sage, seid vorsichtig, wird das als Dramatisierung empfunden . . .
. . . weshalb Sie die Taten an sich zunächst ja auch gar nicht kommentiert haben.
Aus guten Gründen, denn ich bin weder Polizeichef noch Staatsanwalt. Als dann der eine Täter aber gefasst war und vor allem dessen Identität und Herkunft bekannt wurde, war klar: Das hat nun eine höchst politische Dimension. Und da muss ein Oberbürgermeister Position beziehen.
Nach der Festnahme riefen Sie zur Besonnenheit auf – und haben prompt rund 350 Hass-E-Mails, teilweise auch mit Morddrohungen, erhalten. Wie erklären Sie sich solche heftigen Reaktionen? Und wie gehen Sie damit um?
Mit Kritik muss ein Politiker umgehen können, und die politische Meinungsfreiheit wird zu Recht vor Gericht weit ausgelegt. Diese E-Mails haben aber mit Meinungsfreiheit nichts zu tun. Übelste Beleidigungen in Fäkalsprache, persönliche Diffamierungen bis hin zu Morddrohungen – das sind auch strafrechtlich relevante Dinge. Ich habe deshalb Strafanzeige erstattet, denn das kann man so einfach nicht stehen lassen. Es ist erschütternd festzustellen, wie manche im Schutze der Anonymität jegliche Mindeststandards menschlichen Umgangs vermissen lassen.
Der Freiburger Fall ist sehr emotional besetzt – und in mehrfacher Hinsicht tragisch: der Mord an sich, als Täter ein vermeintlich minderjähriger Flüchtling und das bei einem Opfer, das selbst und dessen Familie in der Flüchtlingshilfe engagiert war.
Wenn solch eine Geschichte Sonntagabends im Tatort ausgestrahlt worden wäre, hätte ich abgeschaltet. Zu platt wäre mir das erschienen. Aber nun ist es plötzlich bittere Wirklichkeit. Sehr gestört hat mich, dass in diesem Zusammenhang in Teilen der Öffentlichkeit ein vermeintliches Gutmenschentum verächtlich gemacht wurde. Es kommen Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten hierher, mit teils traumatischen Erfahrungen, ohne Hab’ und Gut, ohne die Sprache zu können. Da ist es ein Akt der Menschlichkeit zu helfen und diese Menschen nicht zu verhöhnen.
Aber offenkundig wird die Gastfreundschaft immer wieder missbraucht – wie hier in Freiburg oder eben in Berlin beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt. Herrscht bisweilen in bestimmten Kreisen auch eine gewisse Naivität im Blick auf die Flüchtlinge?
Ich wehre mich dagegen, alles und alle in einen Topf zu werfen und angesichts von Einzelfällen das komplette System in Frage zu stellen. Alles, was wir über den Täter von Freiburg wissen, hat nichts mit einer Naivität von Helfern oder politisch Verantwortlicher zu tun – sondern schlicht mit dem Versagen der Sicherheitssysteme in Europa. Da hat ein brutaler Gewalttäter sein Unwesen getrieben, und er war zufällig in Freiburg. Das hätte ebenso gut an jedem anderen Ort passieren können.
Der Mann hat sich als minderjährig ausgegeben, er stand unter besonderem Schutz. Müssen wir genauer hinschaeun?
Ich habe mich schon immer gewundert, wie leicht es den jungen Menschen in dieser Hinsicht gemacht wird. Sie kommen in der Regel ohne Papiere, wir müssen ihnen glauben – und dann genießen sie den vollen Jugendschutz. Schätzungen zufolge wird in 20 Prozent der Fälle Missbrauch betrieben, aber ich sehe keine wirkungsvolle Alternative. Wir akzeptieren aus rechtlichen und sozialen Gründen einen gewissen Kontrollverlust. Zurückschicken in die Heimatländer? Das geht in der Regel nicht.
Wobei Freiburg nicht zum ersten Mal unangenehme Erfahrungen gerade mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen macht: vor zwei, drei Jahren gab es eine Welle von Übergriffen am Stühlinger Kirchplatz, Anfang 2016 sexuelle Belästigungen in Diskotheken. Welche Lehren wurden gezogen?
Eines ist mir wichtig zu betonen: Wir tun sehr viel für die minderjährigen Flüchtlinge. Sie lernen die Sprache, sie gehen zur Schule – und ein Großteil von ihnen bringt Leistungsbereitschaft mit. Sie wollen sich integrieren, sie wollen lernen und weiterkommen. Unsere Mitarbeiter und auch die anderen Institutionen wie zum Beispiel das Christophorus-Jugendwerk in unserem Auftrag leisten eine hervorragende Arbeit. Aber das verläuft alles sehr unspektakulär, abseits der breiteren Öffentlichkeit . . .
. . . was unsere Frage nicht wirklich beantwortet, wie mit den schwierigen unter den meist jungen Männern umgegangen werden soll. Gibt es da spezielle Rezepte?
Dann müssen wir das Kind beim Namen nennen, sprich: Wenn bestimmte Gruppen aus bestimmten Ländern auffällig werden, ist es nicht rassistisch, dies öffentlich zu machen – nicht zuletzt auch, um die anderen Flüchtlinge zu schützen. Und notfalls müssen wir drastische Maßnahmen ergreifen, so wie das nach den Ereignissen auf dem Stühlinger Kirchplatz geschehen ist.
Wie ist das zu verstehen?
Die Kinder und Jugendlichen damals kamen vor allem aus ostafrikanischen Ländern, aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, und sie hatten selbst viel Gewalt erlebt. Allein mit wohlmeinender Sozialarbeit sind wir – das muss man sagen – nicht weit gekommen. Da hat es ein intensives Zusammenspiel von Polizei und Staatsanwaltschaft gebraucht und schlussendlich auch die konsequente Umsetzung bestehender Gesetze mit zum Teil hohen Jugendstrafen, um zu zeigen, wo hierzulande die Grenzen sind. Das hatte abschreckende Wirkung.
Wie hat sich die Lage denn bei den Flüchtlingen insgesamt entwickelt aus Ihrer Sicht?
Für Freiburg kann ich sagen, dass sich die Lage entspannt hat. Zum einen sind die Zahlen deutlich zurück gegangen und zum anderen haben wir zusätzliche Kapazitäten für die Unterbringung geschaffen. Das läuft inzwischen reibungslos. Insofern würde ich in der Stadt von einer gewissen Normalisierung sprechen.
Spüren Sie denn in Freiburg inzwischen eine Reserviertheit gegenüber Flüchtlingen?
Es hieß ja schon, dass sich der Mord und seine Hintergründe negativ auf die Helferkreise, die wir in der Stadt in großer Zahl haben, auswirkt. Ich stelle eher eine Trotzreaktion fest nach dem Motto: Jetzt erst recht. Und wenn Sie mich persönlich fragen: Freiburg war, ist und bleibt kein Idyll, aber eine tolerante und weltoffene Stadt.