Was die Schuldenkrise betrifft, ist der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach optimistisch. Schrittweise bewege sich Europa in die richtige Richtung

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)

Stuttgart- Nur schrittweise bewege sich Europa bei der Lösung der Schuldenkrise in die richtige Richtung, urteilt Friedhelm Hengsbach. In spätestens fünf Jahren jedoch werde es gemeinsame Euroanleihen sowie einen Finanzausgleich durch einen Fonds geben, der Ungleichgewichte ausgleicht, sagt der Jesuit optimistisch voraus.

 

Herr Hengsbach, als Mann Gottes haben Sie bestimmt prophetische Gaben. Ist der Euro nun gerettet?

Der Euro ist überhaupt nicht in Gefahr. Man dürfte nur von einer Eurokrise reden, wenn der Euro im Vergleich zu anderen Währungen über- oder unterbewertet wäre. Im ersten Fall jammert die Exportindustrie, im zweiten jammern die Importeure. In Wirklichkeit geht es nicht um den Euro, sondern um die Folgen der Finanzkrise.

Die dreht eine Runde nach der anderen. Es begann mit einer Immobilienkrise, die griff auf die Banken über, dann ging es um Spekulationsblasen an den Rohstoff- und den Finanzmärkten. Jetzt trifft es die peripheren Staaten und ihre Staatsanleihen im europäischen Währungsverbund. Man muss also genau schauen, wo sich gerade die überschüssige Liquidität austobt.

Bei den EU-Gipfeln wollte die Politik doch aber vor allem dem Euro helfen?

Das sehe ich anders. Es ging um den Konflikt zwischen den Finanzmärkten und den nationalen Regierungen. Bisher treiben die Großbanken, Versicherungskonzerne und Investmentgesellschaften die Staaten vor sich her. Dabei sollten die Staaten bestimmen, wie die Zukunft Europas aussehen soll – und zwar im Sinne der Menschen.

Geht das auch konkreter?

Für ein stabiles Währungssystem ist ein wirtschaftlich starker Anker nötig, also womöglich Deutschland zusammen mit Frankreich und Großbritannien. Dann bräuchten wir eine Zentralbank, die nicht nur das Güterpreisniveau stabil hält, sondern auch Wachstum und Beschäftigung stimuliert. Das sollte europaweit koordiniert werden. Dazu müsste ein Fonds kommen, der die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Staaten ausgleicht.

Vom Sparen reden Sie gar nicht?

Sparen ist der Versuch, entweder umzuverteilen zu Lasten der öffentlichen und zu Gunsten der privaten Haushalte beziehungsweise zu Lasten der schwächeren und zu Gunsten der stärkeren Nationen in Europa. Oder zu schrumpfen mit der großen Gefahr einer Rezession.

Haben etwa die Griechen nicht über ihre Verhältnisse gelebt und müssen den Gürtel nun enger schnallen?

Das ist die Logik der schwäbischen Hausfrau. Die übersieht aber, dass alle Bürger Europas in einem Boot sitzen. Auch die Bundesrepublik bleibt stabil, solange die starken Länder für die schwachen im Finanzausgleich einstehen. Sich dagegen zu wehren, läuft auf eine Aufkündigung der Solidarität hinaus. Auch ein gemeinsames Währungssystem muss solidarisch verfasst sein. In Ansätzen ist das in Europa ja schon so. Es gibt einen Regionalfonds und die Agrarförderung, die der Kohäsion dienen. Solche Mechanismen werden wir künftig ausbauen müssen.

Die Deutschen sollen also noch mehr zahlen?

In Deutschland fangen die Baden-Württemberger an, sich dagegen zu wehren, dass Kinder in Bremen kostenlos in die Horte dürfen. Statt selbst solche Angebote zu machen, motzen die reichen Länder darüber, dass sie für die armen Länder, die sich in der Hängematte räkeln, zahlen sollen. Ähnlich ist der Abschied von der europäischen Solidarität als die Krankheit des vergangenen Jahres einzustufen. Durch Schuldenbremsen, Spardiktate und Stabilitätspakte versucht Deutschland die eigene Stärke zu erhalten und treibt die anderen dabei weiter in den Keller.

Wir sollen also bis 67 arbeiten, damit die Griechen früh in Rente gehen können?

Wir können gar nicht bis 67 arbeiten. Schon jetzt erreicht nicht mal jeder Zweite das normale Rentenalter. Die Rente mit 67 gehört zu den großen Parolen, die von den Politikern in Europa verbreitet werden, die aber mit der Realität nichts zu tun haben.

Wir haben aber zuletzt viel über Verschwendungen in Griechenland erfahren. Es fällt schwer, dafür die Zeche zu zahlen.

Ob da mehr verschwendet wurde als in Deutschland, weiß kein Mensch. Schlamperei und Steuerhinterziehung gibt es auch bei uns. Denken Sie an die Verschwendung in Gorleben oder die mögliche Verschwendung durch Stuttgart 21. Angela Merkel selbst hat sich an den Griechenland-Legenden beteiligt. Immer wieder werden Einzelne für gesellschaftliche Risiken haftbar gemacht. An der Massenarbeitslosigkeit sind die angeblich faulen Säcke oder die Unqualifizierten schuld. Genauso individualisiert man die Risiken, die aus Konstruktionsfehlern des Währungssystems herrühren.

Sie als Christenmensch argumentieren an dieser Stelle nicht für mehr Moral?

Es ist pharisäerhaft und unklug, wenn Deutschland sich als Moralapostel aufspielt. Die US-Amerikaner haben ihr Ansehen eingebüßt, seit sie sich als Friedensbringer aufspielen und Kriege für Öl führen. Wenn Deutschland den Aufpasser in Europa spielt, verliert es an Vertrauen. Außerdem ist es verfehlt, so zu argumentieren. Wenn Länder riesige Defizite aufhäufen, muss es auch Länder geben, die sich Zahlungsbilanzüberschüsse leisten. Beide sind für die Krise verantwortlich. Wir sollten nicht mit dem Finger auf andere zeigen, sondern die strukturellen Schieflagen des Währungsraums beseitigen.

Die Strukturen in Europa werden doch angepasst, es soll eine Fiskalunion geben.

Mit Steuerpolitik allein kann ich kein vereinigtes Europa schaffen. Eine Anpassung zu Lasten der Schwächeren ist unfair und unsolidarisch. Die Unterschiede werden dadurch größer und nicht geringer. Das ist kurzsichtig und nicht nachhaltig. Die Kanzlerin schaut nicht über den Tellerrand hinaus. Sonst hätte sie nicht die Griechen, Spanier, Portugiesen und Italiener von oben belehrt, sondern eine Lösung gesucht, an der alle beteiligt sind.

"20 Jahre lang hat die Staatsverschuldung niemanden interessiert"

Was kritisieren Sie an den neuen Regeln?

Erstens werden die Beschlüsse nicht eins zu eins umgesetzt. Eine Schuldenbremse in die Verfassungen zu bringen, wird schon an neuen politischen Mehrheiten scheitern. Und selbst wenn: im Ernstfall wird ein Land Ausweichmöglichkeiten finden. Zweitens werden sich nicht genug Investoren von außen finden, die den Rettungsschirm wie geplant aufstocken.

Das Theater von immer neuen Krisengipfeln geht dieses Jahr somit weiter?

Sicher. Allerdings, so vermute ich, immerhin schrittweise in die richtige Richtung. Ich bin optimistisch. In spätestens fünf Jahren werden wir ebenso Euroanleihen wie einen Finanzausgleich durch einen Fonds haben, der die Ungleichgewichte ins Lot bringt und offensiv Realinvestitionen finanziert. Am Ende muss ein autonomer Währungsraum stehen, der nicht auf Hilfe von außen – etwa des IWF – angewiesen ist.

Und wie sollen die horrenden Schulden weg?

Schuldenabbau bedeutet derzeit, dass der Staat seine Leistungen einschränkt zu Gunsten von privaten Vermögenseigentümern. Die Folge ist, dass öffentliche Güter nicht mehr in ausreichendem Maß bereitstehen – etwa für die Gesundheit, die Bildung, für öffentlichen Nahverkehr und erneuerbare Energien. Die Ursache der Krise ist doch nicht die Staatsverschuldung. 20 Jahre lang hat die Staatsverschuldung niemanden interessiert.

Zuletzt ist sie durch die Bankenrettung gestiegen. Diejenigen, die an der Vermögensblase, an der Aufblähung der Kredite profitiert haben, müssen jetzt durch einen öffentlichen Schuldenerlass und eine private Vermögensvernichtung auch die Kosten der Krise tragen. Damit würde der Stand vor dem Vermögensboom erreicht.

Ein solcher Schuldenschnitt brächte Geldinstitute und letztlich die private Altersversorgung vieler Bürger in Gefahr.

Hartz-IV-Empfänger wären von einem Vermögensschnitt nicht betroffen. Den anderen sage ich: Wer unbedingt von dem Spekulationsboom profitieren wolle, darf auch enttäuscht werden. Die haben doch nicht spekuliert, sondern sind dem Rat der Politik gefolgt, dass die Rente bald nicht mehr reicht. Man müsste alle vor Gericht stellen, die jahrelang behauptet haben, die private Vorsorge sei rentabler, sicherer und demografiefester als die solidarische Rente.

Die private Altersvorsorge der Arbeiter war doch eine versteckte Lohnkürzung, war weniger Einkommen, das für den Konsum verfügbar sein sollte. Das waren Sackgassen und Irrwege. Ich gebe aber zu, dass man den Bankensektor radikal umstrukturieren müsste. Es darf kein Finanzgeschäft mehr geben, das der öffentlichen Kontrolle entzogen ist. Kredite müssen gedeckelt, Investment- und Geschäftsbanken müssen getrennt werden. Die Vorschläge lagen nach der Finanzkrise auf dem Tisch. Aber es ist bisher nicht gelungen, sie durchzusetzen.

Einen Schuldenschnitt, wie Sie ihn fordern, gibt es im Falle Griechenlands. Doch damit werden Investoren verschreckt.

Grundsätzlich ist zu fragen, warum überhaupt private Investoren öffentliche Zukunftsinvestitionen finanzieren müssen, um damit private Profite zu machen? Der Staat könnte sich doch zinsgünstige oder zinslose Kredite von der Zentralbank oder dem noch zu schaffenden europäischen Währungsfonds geben lassen. Seine laufenden Ausgaben dagegen müsste der Staat durch Steuern finanzieren. Aber Kohl, Schröder und Merkel haben mit ihrer Steuersenkungspolitik dafür gesorgt, dass die öffentlichen Haushalte verarmen.

Schwarz-Gelb will auch wieder die Steuern senken.

Warten wir ab, was aus den Beschlüssen wird. Solange die FDP mit diesem Thema Wähler zu gewinnen glaubt, wird sie auf Steuersenkungen beharren. Aber im nächsten Wahlkampf wird das Thema der sozialen Gerechtigkeit im Mittelpunkt stehen. Und niemand vertraut mehr auf die Legende, dass Steuersenkungen mehr soziale Gerechtigkeit schaffen.