Für Stuttgarts OB Fritz Kuhn (Grüne) sind die hohen Feinstaubwerte und der Dauerstau die größten Probleme. Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung fordert er, dass alle Verkehrsteilnehmer mehr Rücksicht aufeinander nehmen.

Stuttgart - Fritz Kuhn sieht seine grünen Parteifreunde für die Kommunalwahl gut aufgestellt. Und wenn es doch eine bürgerliche Mehrheit aus CDU, Freien Wählern, FDP und womöglich der AfD nach dem 25. Mai geben sollte? „Ein guter OB kommt mit jedem Gemeinderat klar“, stellt er für diesen Fall fest.

 
Herr Kuhn, haben Sie die schönste Etappe Ihrer Amtszeit schon hinter sich?
Das weiß ich ja noch gar nicht, mir geht es gut, und ich schaue frohgemut in die Zukunft.
Obwohl am 25. Mai Kommunalwahl ist und Ihnen eine Rückkehr der bürgerlichen Mehrheit droht?
Ich kommentiere Dinge erst dann, wenn sie eingetreten wären. Doch mir ist da nicht bang. Die Grünen stehen ordentlich da und kämpfen gut. Und übrigens bin ich kein Anhänger dieses Blockdenkens. Die Süddeutsche Ratsverfassung sieht bekanntlich wechselnde Mehrheiten in Gemeinderäten vor. Ich habe bisher bei den großen Fragen wie etwa beim Haushalt breite Mehrheiten gesucht und erhalten. Sogar die Energiekonzessionsentscheidung war bis auf SÖS von einer breiten Mehrheit getragen. Das will ich auch weiter so halten.
Es ist Ihnen also gleichgültig, wer in welcher Konstellation im Gemeinderat sitzt?
Nein, natürlich nicht. Aber ein guter OB kommt mit jedem Gemeinderat zurecht.
Welche Themen überleben den Wahlkampf?
Die Stadt muss die Frage beantworten, wie sie bezahlbaren Wohnraum für Familien schaffen kann. Zudem haben wir ein ungelöstes Verkehrsproblem und inakzeptable Feinstaubwerte. Und: wie schaffen wir die Energiewende? Gegenwärtig warten wir noch, ob der Bund endlich erkennen lässt, wie er Energiepolitik betreiben will. Es ist aberwitzig, dass Sigmar Gabriel und Angela Merkel den Atomausstieg über die Braunkohle organisieren wollen. Trotzdem werden wir bis Ende des Jahres ein Konzept erarbeiten, wie Stuttgart die Energiewende schaffen kann – mit viel Einsparung, Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Stuttgart hat als Wissenschafts- und Technologiestadt dafür großes Potenzial.
Künftig drohen in Sachen Feinstaub Strafzahlungen durch die EU von 100 000 Euro pro Überschreitungstag. Führt das nicht unweigerlich zu Fahrverboten oder City-Maut?
Ich mache volle Kanne alles, was bei Verkehr und Feinstaub geht. Wir haben dazu einen Lenkungskreis eingerichtet, Tempo 40 an Steigungsstrecken festgelegt, die Verkehrsleitzentrale ausgebaut, in den Ausbau von Schiene und Bus investiert und schließlich ein sehr erfolgreiches Job-Ticket bei der Stadt eingeführt. Ich würde mir übrigens wünschen, dass auch das Land für seine Beschäftigten in Stuttgart so etwas beschließt. Die privaten Unternehmen gehen jedenfalls schon sehr gut mit, sodass wenigstens im Berufsverkehr mehr Menschen mit Bahn und Bus unterwegs sind.
In der Ära ihres Vorgängers wurden einst sogar Asphaltkleber aufgetragen . . .
Bei der Feinstaubbekämpfung muss man alles probieren. Neuerdings gibt es Forschungen, die besagen, dass Moose besonders viel Feinstaub absorbieren können. Am wichtigsten ist die Verhinderung von Feinstaub. Das ist ein komplexes Produkt, das auch durch Heizungen entsteht. In der unmittelbaren Umgebung von stark befahrenen Straßen müssten meiner Meinung nach Heizungen zuerst saniert werden.
Am meisten emittiert der Individualverkehr.
Deshalb sollen weniger Autos in und durch den Kessel fahren. Wenn wir 20 Prozent weniger schaffen, hilft das enorm gegen Feinstaub. Damit mehr Leute auf den Nahverkehr umsteigen, muss aber die S-Bahn pünktlich sein. Das ist die große Aufgabe des Regionalverbandes. Deshalb gehe ich auch ins Regionalparlament, um die Diskussion voranzutreiben. Die Region hat jetzt Express-Buslinien beschlossen. Ich schaue, dass die Elektrofahrzeuge weiter zulegen, und ich tue viel für den Fahrradverkehr. Aber die Stadt ist in vielen Fragen auch gespalten. Alle schimpfen aufeinander: die Autofahrer auf die Fahrradfahrer und umgekehrt, auch Fußgänger schimpfen Radfahrer. Ich sage, dass alle mehr Rücksicht aufeinander nehmen müssen.
Paris verhängt einfach Fahrverbote.
Ein Fahrverbot kann man nur machen, wenn gar nichts anderes mehr hilft. Man muss sich darüber im Klaren sein, welcher Unfrieden in der Region und in der Stadt dadurch gestiftet würde, und welche wirtschaftlichen Probleme es nach sich ziehen würde. In Stuttgart hängen nun einmal viele Arbeitsplätze an der Automobilindustrie und an den Zulieferern. Die brauche ich als Bündnispartner für die Verkehrswende von der verkehrs- zur mobilitätsgerechten Stadt. Die City-Maut-Diskussion hilft uns nicht weiter. Dazu gibt es nicht mal die gesetzliche Grundlage. Wir werden jetzt erst einmal mit dem Verband Region Stuttgart das Thema Park & Ride anschauen, denn viele Verkehrsprobleme in Stuttgart beginnen in der Region.
Doch die S-Bahn bleibt unpünktlich, und beim Stadtbahnverkehr wird es auch Beeinträchtigungen geben. Sie streuen den Bürgern Sand in die Augen, wenn Sie behaupten, die Situation werde besser.
Einspruch, Euer Ehren! Ich streue niemandem Sand in die Augen. Die S-Bahn hat ein großes Problem, das unter anderem damit zu tun hat, dass sie auf ganz andere Größenverhältnisse ausgerichtet ist. Die Stammstrecke ist überlastet, und in der Signal- und Weichentechnik wurde nicht besonders viel investiert. Das ist vielleicht ein Rückfluss von Stuttgart 21. Der Verband Region Stuttgart hat das aber auf dem S-Bahn-Gipfel aufgenommen. Ich habe den Eindruck, dass die Bahn allmählich versteht, dass sie mit der S-Bahn besser werden muss.
Sie setzen also auf das Prinzip Hoffnung?
Die S-Bahn ist das Rückgrat unseres ÖPNV-Systems. Deren Pünktlichkeit entscheidet wesentlich über die Frage, welche Luftverhältnisse ich in der Stadt habe. Da streue ich niemandem Sand in die Augen. Bei der SSB habe ich dafür gesorgt, dass sie bei der Unterbrechung der Streckenäste wegen Stuttgart 21 eindeutig Stellung bezieht. Es ist doch klar, wenn du mitten in einer Stadt den Bahnhof unter die Erde legst und ihn dazu umdrehst, dass das die Stadt über Jahre mit Bautätigkeiten belastet. Das haben alle vorher gewusst, und trotzdem wollte es die Mehrheit so.
Womit wir bei Stuttgart 21 wären. Viele Bürger haben angekündigt, die Grünen nicht mehr zu wählen, weil sie die Haltung Ihrer Partei zu S 21, also lediglich kritisch-konstruktive Begleitung, nach der Volksabstimmung nicht für in Ordnung erachten.
Ich glaube nicht, dass viele die Grünen bestrafen wollen. Das wird von der Linkspartei instrumentalisiert. Im Übrigen halte ich es für unpolitisch, die Grünen, die dagegen gekämpft haben, bestrafen zu wollen, und nicht diejenigen, die S 21 herbeigeführt haben. Der Volksentscheid hat gezeigt, dass die Mehrheit der Bürger das Projekt will. Und ich habe eine Zwei-Drittel-Mehrheit aus CDU, SPD, Freien Wählern und FDP im Rat. In der Demokratie gilt das Mehrheitsprinzip, und daran halte ich fest.
Im S-21-Lenkungskreis sprachen Sie über Brandschutz und Terminrisiken bei der Neubaustrecke, dabei hieß es kürzlich, man werde früher fertig. Ist die Bahn ein vertrauenswürdiger Partner?
Das Thema Brandschutz ist noch nicht abschließend erledigt. Erst wenn die Gutachten vollständig da sind, kann meine Feuerwehr sagen, was sie davon hält. Letztlich entscheiden wird dann das Eisenbahnbundesamt. Natürlich ist die Terminfrage wichtig. Und dennoch muss man eines wissen, es hat in in Deutschland noch kaum ein Großprojekt gegeben, bei dem man zehn Jahre vor der Realisierung auf den Monat genau die Inbetriebnahme voraussagen konnte. Und die Prozessiererei gegen die Stuttgarter Zeitung habe ich auch nicht verstanden. Das hat auch nicht zur Beschleunigung beigetragen. Am Ende gilt: Wenn vom Hauptbahnhof bis Ulm ein Teil in Verzug ist, dann ist alles in Verzug. Wir wissen, dass der Filderbahnhof das größte Problem ist. Auffallend ist, dass von den Befürwortern des Projekts nicht mehr viel zu sehen ist.
Es gibt noch Befürworter, etwa von der SPD, die von Ihnen die Überplanung des Rosensteinviertels fordern.
Ich bin mit den Bürgermeistern übereingekommen, zuerst den Neckarpark zu entwickeln. Danach beginnt die bürgerschaftliche Diskussion, was auf dem Bahngelände geschehen kann. Man muss doch jetzt nicht wie verrückt eine Diskussion anfachen, die frühestens in zehn Jahren in eine Realisierung gehen kann. Die Ungeduld der SPD ist eher deren schlechtes Gewissen.
Sie sind kein OB der Leuchtturmprojekte, deshalb fragen sich manche: Was macht der eigentlich den ganzen Tag?
Das Gespöttel in ihrer Frage lasse ich so nicht stehen. Ich arbeite intensiv an den ungelösten Fragen der Stadt: Wohnen, Verkehr, Energie, Einkaufsinfrastruktur, Städtebau. Häufig müssen wir die Weichen neu stellen. Das mache ich energisch und ohne sterile Aufgeregtheit. Ich springe eben nicht von einem Leuchttürmle zum anderen. Diese Stadt braucht eine Infrastruktur, die Wirtschaft, Soziales und Ökologie verbindet.
Auffallen könnten Sie etwa durch strukturelle und personelle Veränderungen im Rathaus. Wäre es nicht zum Beispiel notwendig, den Kita-Bereich aus dem riesigen Jugendamt auszugliedern?
Das erörtere ich mit den betroffenen Bürgermeistern. Aber Sie haben Recht, es fällt auf, dass das Jugendamt sehr groß ist. Es gibt kaum Ämter in der Republik in dieser Größe. Sie wissen, dass eine Diskussion um ein Pädagogisches Amt geführt wird. Meine Methode bei solchen Fragen ist immer: erst klären, welche Alternative es gibt, dann entscheiden.
Nun haben Sie viele Probleme wie Stuttgart 21 und die neuen Einkaufszentren übernommen. Haben Sie auch etwas Positives geerbt?
Ich will gar nicht jammern. Es gibt in Stuttgart viele extrem positive Dinge. Denken Sie an die Integrationspolitik, und wir sind in der sozialen Infrastruktur sehr gut. Es gibt hervorragende Forschungsinstitute. Wir haben ein reiches Kulturleben und eine wunderschöne Landschaft. Die Schönheit der Stadt wird zwar nicht mehr viel besungen, aber ich finde, dass Stuttgart eine einzigartig schöne Stadt ist.
Das Interesse an urbanem Lebensraum ist groß. Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Innenstadt lebenswert zu machen?
Die Innenstadt ist schon extrem attraktiv. Schauen Sie mal an einem Sommerabend, was allein am Schlossplatz los ist. Es gilt, die Weltoffenheit zu bewahren und zugleich Probleme wie den wilden Müll und die Lärmsituation in der Nacht zu lösen. Wenn die Einkaufszentren alle am Netz sind, müssen wir schauen, dass wir nicht zu viele Verödungsinseln auf dem Weg dazwischen haben. Ein urbanes Stadtklima entsteht, wenn du eine kleinräumige Stadt hast, die Plätze zum Verweilen und gute Cafés anbietet. Das kommt nicht von selber, da muss Planung und Steuerung her. Ich sage es einmal brutal: Wenn unsere Einkaufsstruktur nur aus Filialen von Ladenketten besteht, die es auf der ganzen Welt auch gibt, dann sind wir keine spannende Einkaufsstadt mehr. Aber man muss nicht alles hinnehmen, sondern man muss eingreifen, wo es möglich ist und Vorschläge machen.
So wie bei Primark, das bisher gefehlt hat und jetzt ins Milaneo kommt?
Ich habe nicht den Anspruch erhoben, dass die Stadt bestimmen kann, wer ins Milaneo kommt. Ich hätte mir gewünscht, dass man sich vorher überlegt, was für eine Einkaufswelt man kreiert. Aber jetzt ist es beschlossen, und jetzt muss man gucken, dass zwischen Milaneo und Gerber eine normale Stadt stattfindet.