Beim Fußball sind die Fronten klar. Es gibt ein "Wir" und "die anderen", sagt der Soziologe und Fußballfan Gerd Dembowski.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)
Herr Dembowski, die Bundesliga verkündet immer neue Zuschauerrekorde. Was sind die Gründe für diesen langanhaltenden Boom?


Fußball ist mit mehr als 80000 Fußballspielen pro Spieltag hierzulande eines der wichtigsten gesellschaftlichen Ventile für unterschwelligen Alltagsfrust. Hier kann man sich abreagieren, einer Ersatzfreiheit frönen. In nach wie vor althergebrachten männlich geprägten Hierarchien, die sich nur langsam verändern, auch wenn mehr Frauen dabei sind. Sich in der Masse zu entladen, scheint wichtig. Wichtig scheint auch, immer ein "Wir" und "die anderen" zu konstruieren. Das geht im Fußball gut und man kann sich rausreden: "Das ist doch bloß Sport". All das gilt nicht mehr nur für den vermeintlichen Proll.

Verdrängen Eventzuschauer den klassischen Fußballfan aus dem Stadion?


Neue Zuschauerschichten sind dazugekommen und klassische Fans haben sich mit der Kommerzialisierung verändert. Sie haben innerhalb der Ultra-Gruppierungen eine zum Teil fundierte, aber oftmals verkürzte Kritik an den Verhältnissen etabliert. Klar gibt es Gruppen, die sich mitunter zusätzlich beim Amateurfußball ihrer zweiten Mannschaft oder einem Vorstadtclub treffen, um "richtiges" Fangefühl zu pflegen. Oder Fans versuchen, eigene Vereine zu gründen, wie in Manchester oder Wimbledon.

Welche Folgen hat der Wandel für die Stimmung?


Während die - wie Sie sagen - "Eventzuschauer" weniger kreativ sind, bekommt man den Eindruck, stimmungsmachende Gruppen würden mit einer nahezu verordnenden Stimmung antworten. Das kann entfremdet vom Spiel wirken, aus anderer Sicht ist es einfach besser und imposanter organisiert als früher. Viele Ultras haben Wut, die es schon früher gab, in kontinuierliche Aufschreie gewandelt und daraus eine skeptische, bildungsbürgertümlich geprägte Jugendkultur gebastelt. Sie thematisieren Politisches wie Polizeiwillkür im Stadion. Viele bezeichnen sich aber als unpolitisch. Doch es gibt Gruppen, die durch zivilcouragiertes Engagement auch außerhalb des Fußballs darauf hinweisen, dass sich im Fußball gesellschaftliche Missverhältnisse abbilden.

Manche fürchten amerikanische, sterile Verhältnisse.


Der Begriff "amerikanisch" ist Quatsch. Die Kommerzialisierung verändert die Wahrnehmung erheblich. Fans sind ein Teil davon, wie sehr sie sich auch wehren. Interessant wird sein, wie der Spagat von Proficlubs zwischen ihrer Tradition und der Reduzierung auf die bloße Marke weiter funktioniert.

Wahnwitzige Ablösesummen, obszöne Gehälter, steigende Eintrittspreise und so weiter - gibt es eine Entfremdung zwischen Fans und Vereinen?


Sie schreitet fort, wenn die regional übergreifenden Fangruppierungen in der AG Fandialog des DFB und der DFL sich nicht auf Augenhöhe fühlen. Auch eine als pauschal empfundene Kriminalisierung von Fans durch Verringerung der Kartenkontingente für Gästefans, Sitzplatzzwang, Ausweiszwang, Polizeikessel, schikanöse und entwürdigende Behandlung von Gästefans fördern das.

Welche Rolle spielt Gewalt heute in den Stadien?


Gewalt ist fester Bestandteil der Gesellschaft. Auf dem Oktoberfest oder in Kneipen entlädt sie sich oft heftiger als in der Bundesliga. Die Ursachen sind zu komplex, um sie auf zwei Zeilen zu reduzieren. Man liefe Gefahr, sie auf "neue Dimensionen" zu reduzieren. Das begünstigt Sensationslust und Hysterie. Ich will Gewalt im Fußball nicht verharmlosen, aber sie wird medial gern überzeichnet.