Wird der gute alte Katalog verschwinden? Nein, sagt der Otto-Vorstandschef Hans-Otto Schrader. Ein Gespräch über Amazon, Quelle und Lohndumping.

Stuttgart - Quelle ist tot, Otto lebt. Der Versandhandel ändert sich und wird immer stärker bestimmt von Internetbestellungen. Otto-Chef Hans-Otto Schrader geht dennoch davon aus, dass die neuen Medien die alten nicht ganz verdrängen werden.

 

Herr Schrader, freuen Sie sich über die höheren Löhne in China?

Ich halte es für angemessen, dass das Lohnniveau dort steigt. Es gehört zur Dynamik einer Volkswirtschaft, dass über die Produktion immer hochwertigerer Waren auch der Wohlstand steigt und die Arbeiter im Lande positiv partizipieren.

Sie waren lange bei Otto für die Einhaltung der ethischen Standards verantwortlich. Schlagen jetzt zwei Herzen in Ihrer Brust?

Keineswegs. Zum einen bin ich als Vorstandsvorsitzender letztlich auch derjenige, der die Einhaltung ethischer Standards verantwortet. Zum anderen steigen die Kosten für den Erwerb von Textilien für uns und für andere Wettbewerber. Die Margen aller geraten unter Druck, und wir müssen schauen, wie wir das ausgleichen können.

Sie könnten die Preise erhöhen.

Das haben wir bisher kaum gemacht. Wir beobachten den Markt sehr genau, stellen jedoch keine Tendenz fest, dass der Markt Preiserhöhungen zulassen würde.

Dann zieht die Karawane der Beschaffung weiter, in noch ärmere Länder als China, damit Sie wieder auf Ihre gewohnten Margen kommen können?

Das ist zu einfach gedacht. Sicherlich sind die Zeiten vorbei, die ich noch Anfang der achtziger Jahre erlebt habe, dass noch Oberhemden in Westdeutschland und Pullover auf der Schwäbischen Alb produziert wurden. Heute haben diverse Zulieferländer wie die Türkei, Indien oder China ihre spezifischen Stärken, weil auch die Produkte anspruchsvoller werden. Denken Sie nur an Applikationen auf Jeans und Blusen. Nein, die Karawane ist angekommen.

Warum soll ein Kunde bei Ihnen einkaufen und nicht bei Amazon?

Weil wir beides haben: ein riesiges Angebot, günstige Eigenmarken und einen sehr persönlichen Service. Wir sind für die Kunden ansprechbar.

Nicht immer die Billigsten

Ist Amazon nicht ansprechbar?

Amazon versucht nach meiner Einschätzung, diesen Fall systematisch zu vermeiden.

Sie haben aber nicht gesprochen über...

Sie meinen, dass unsere Kunden bei uns auch einen günstigen Kredit bekommen?

Ich meine den Preis. Sollten Kunden bei Ihnen auch einkaufen, weil Sie preisgünstig sind?

Wir sind preisgünstig, aber nicht immer die billigsten.

Aber im Internet ist doch alles vergleichbar.

Das ist richtig, aber nennen Sie mir einen Kunden, der mit den billigsten Online-Händlern im Netz nicht auch schon schlechte Erfahrungen gemacht hat - etwa beim Service oder bei der Auslieferung. Wir haben nicht den Anspruch, immer und bei jedem Produkt der Billigste im Markt zu sein. Aber es ist unser Anspruch, ein faires Angebot zu machen - unter Einhaltung hoher Sozialstandards. Es existieren Anbieter in Deutschland, die beschäftigen nur noch externe Dienstleister. Dort werden Schuhe sortiert von Menschen, die aus Polen anreisen und für weniger als fünf Euro in der Stunde schuften. Wir bezahlen Tariflöhne und sind wohl der letzte verbliebene große Einzelhändler Deutschland, der seiner Belegschaft noch eine betriebliche Altersversorgung zahlt. Vor diesem Hintergrund wäre es doch absurd, wenn wir die Günstigsten im Internet wären. Wir müssen über die Attraktivität unseres Angebots überzeugen, über die Vielfalt, den persönlichen Service und über die gute Qualität der Zustellung über unsere Tochter Hermes.

Aber gerade die Versandtochter Hermes scheint doch alles andere als eine Stärke Ihres Konzerns zu sein. Die ARD berichtete kürzlich, dass Hermes-Ausfahrer, die alle als selbstständige Unternehmer fungieren, von ihrer Tätigkeit nicht leben können. Sie sollen Hungerlöhne bezahlen.

Einspruch, Euer Ehren! Wir dulden in der Otto-Gruppe kein Lohndumping - weder bei den 8000 festen Hermes-Mitarbeitern noch bei den Spediteuren in der Region, die die Pakete zum Kunden bringen. Wir arbeiten seit 20 Jahren mit diesen mittelständischen Unternehmern sehr erfolgreich zusammen - weil sie es besser können als ein Großunternehmen von der Zentrale aus. Plötzlich berichtet ein WDR-Team in drei Sendungen hintereinander von Missständen und zeigt Einzelfälle, die uns auch sehr betroffen machen. Wir gehen jedem dieser Einzelfälle nach, aber repräsentativ für die gesamte Hermes-Organisation sind sie nicht.

Was sich im Hermes-System ändern muss

Aber Einzelfälle sind doch ein Beleg, der zeigt, was in Ihrem System möglich ist. Wäre es, statt die Autoren zu kritisieren, nicht sinnvoller, zu prüfen, was im Hermes-System verändert werden muss, um den öffentlich bekundeten Otto-Standards in wirklich jedem Fall gerecht zu werden?

Sie haben recht, und das tun wir. Aber es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass Sie bei jedem Unternehmen auf der Welt - bei noch so hohen Standards und noch so ernsthaften Kontrollen immer schwarze Schafe finden. Wenn ein Journalist so lange sucht und öffentliche Aufrufe macht, bis sich ein paar Unzufriedene melden und daraus ein Dokudrama macht, dass wir eine schlecht geführte Firma wären, habe ich damit ein Problem. Nur wenn uns auch nachgewiesen werden kann, dass wir solche Fälle bewusst in Kauf nehmen, würde ich die Kritik akzeptieren. Aber das ist schlicht nicht der Fall.

Was tun Sie als Konzernchef, damit solche Fälle nicht mehr passieren?

Das kann ich Ihnen sehr konkret sagen, denn auch diese Einzelfälle haben uns selbstverständlich sehr betroffen gemacht. Erstens haben wir uns von den beauftragten Spediteuren einen Verhaltenskodex unterschreiben lassen, der jeden Fall von Lohndumping oder gar gesetzliche Verstöße ahndet. Die fliegen raus, wenn sie sich nicht daran halten. Zweitens haben wir einen Ombudsmann eingesetzt, der von Fahrern anonym kontaktiert werden kann und der Missstände verfolgt. Und drittens werden wir unsere aktiven Kontrollen erheblich verschärfen. Wir sind dabei, ein Kontrollsystem zu prüfen, das es uns in Zukunft erlaubt, solche Einzelfälle besser zu ahnden. Nochmals: wir dulden kein Lohndumping, und wir wären mit unserer hohen Reputation, die wir uns in sozialen Fragen über Jahrzehnte erarbeitet haben, ja wirklich dumm, wenn wir unser öffentliches Ansehen dadurch beschädigen ließen.

Themenwechsel: Otto setzt inzwischen 70 Prozent im Internet um. Wie lange wird es denn bei Otto noch einen Katalog geben?

Solange die Kundinnen und Kunden noch Kataloge schätzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Katalog ganz verschwinden wird.

Warum nicht?

Weil die Erfahrung lehrt, dass Neue Medien wie das Internet, Tablets und Smartphones alte nicht ersetzen. Ich besitze zum Beispiel den elektronischen Reader Kindle, trotzdem erfreue ich mich bei mir zu Hause einer schönen Bücherwand. Ich glaube auch, dass elektronische Medien alte Kulturtechniken wie das Lesen in Büchern und Zeitschriften....

...sagen Sie ruhig Zeitungen...

...gerne auch in Zeitungen nicht vollständig ersetzen werden.

Was lehrt der Niedergang von Quelle?

Was lehrt Sie der Niedergang von Quelle?

Gute Managemententscheidungen zu treffen.

Was war nicht gut?

Ich möchte mich auch heute nicht dazu äußern, was Quelle falsch gemacht hat, das wäre kein guter Stil.

Dann verraten Sie doch bitte im Umkehrschluss, warum es Otto noch gibt?

Wir sind nach wie vor in Familienhand und sind in der Lage, jenseits von Quartalsberichten langfristig zu denken und zu handeln. Innovationen waren uns immer wichtig. So hat Doktor Michael Otto als langjähriger Vorstandsvorsitzender viel früher als andere auf das Internet gesetzt.

Was ist denn die größte Gefahr für jeden Versandhändler?

Die größte Sorge muss sein, dass das Geschäftsmodell an Wirtschaftlichkeit verliert, zum Beispiel wenn Retouren einen bestimmten Wert nach oben überschreiten.

Wo liegt bei Ihnen dieser Wert?

Welche maximale Quote an Rücksendungen die jeweiligen Artikelgruppen vertragen, werde ich Ihnen nicht verraten. Das gehört zu unseren bestgehüteten Geschäftsgeheimnissen.

Größte Gefahr für Quelle

Macht es Ihnen Sorgen, dass immer mehr Hersteller einen eigenen Online-Versand betreiben, oder gehen Sie gelassen davon aus, dass die Neulinge sich im Versandhandel noch blutige Nasen holen?

Nein, wir nehmen wirklich jeden Anbieter sehr ernst. Es gibt viele Markenhersteller, die das sehr gut machen, meist mit Hilfe von Dienstleistern. Hugo Boss zum Beispiel bei Ihnen vor der Haustüre betreibt den Online-Shop mit einem externen Partner. Davor haben wir großen Respekt.

Was sehen Sie global und national als größte Gefahr für Ihr Geschäft?

Als Unternehmer sehe ich in der hohen Arbeitslosigkeit in so vielen Volkswirtschaften der Welt die größte Bedrohung. Ich bin als Vorstand, als Geschäftsmann und als Bürger dieses Landes sehr froh darüber, dass wir in Deutschland eine niedrige Arbeitslosenquote haben. Als Bürger finde ich die politischen Umbrüche der letzten Monate im arabischen Raum spannend. Der weltweite Drang nach Freiheit und die neuen Möglichkeiten demokratischer Teilhabe durch das Internet sind eine Chance, aber auch eine Gefahr. Keiner weiß, ob und wann die neue Transparenz auch zu Veränderungen in China führt.

Interessiert Sie das auch als dort agierender Großeinkäufer?

Es muss uns interessieren, wie stabil die Länder sind, mit denen wir Handel treiben. Wir mischen uns aber selbstverständlich nicht in politische Belange ein.

Spüren Sie als Händler auch die Eurokrise oder nutzt sie Ihnen, weil die Menschen weniger Vertrauen in Sparguthaben haben und ihr Geld lieber bei Otto ausgeben?

Das wäre natürlich eine angenehme Lösung (lacht). Aber im Ernst: bisher ist es auf der politischen Ebene leider nicht gelungen, eine Formel zu finden, die Schwierigkeiten dauerhaft zu lösen. Die Probleme werden uns wohl noch eine ganze Zeit lang beschäftigen. Das könnte natürlich dazu führen, dass sich auch in Deutschland die Konsumstimmung eintrübt.

Haben Sie im Unternehmen darauf reagiert?

Ja, aus der Unsicherheit, die ich in der Politik erlebe, müssen wir zwingend Schlüsse ziehen. Schon zu Jahresbeginn habe ich deshalb beschlossen, vorsichtiger zu agieren. Wir schauen seither genau, wo unser Cash liegt, und wir haben in den letzten Monaten ganz bewusst auf große Akquisitionen verzichtet.

Wie läuft denn Ihr Geschäftsjahr bisher?

Es läuft gut. Wir wachsen zwar nicht hoch zweistellig wie im letzten Jahr, aber wir sind immerhin im Wachstumsmodus. Entscheiden wird das Weihnachtsgeschäft.

Schrader und die Otto-Gruppe

Person: Hans-Otto Schrader, 55, leitet seit genau vier Jahren als direkter Nachfolger des Inhabers Michael Otto den Hamburger Handelskonzern. Der Kaufmann hat seine gesamte berufliche Laufbahn bei Otto verbracht und zeichnete auch lange für den Einkauf verantwortlich.

Konzern: Die Otto-Gruppe (unter anderem Otto, Hermes, Bonprix, Sport-Scheck, Manufactum, Mytoys und Heine) hat 2010/11 den Umsatz um 12,6 Prozent auf 11,4 Milliarden Euro gesteigert. 6,6 Milliarden Euro wurden in Deutschland erlöst. In Frankreich erreichte der Umsatz 1,5 Milliarden Euro, in Nordamerika 1,2 Milliarden Euro. Die Otto-Gruppe beschäftigt weltweit fast 50.000 Menschen.