Wer hätte im Juli 1914 den Ersten Weltkrieg verhindern können? Der Berliner Historiker Ernst Piper spricht im StZ-Interview von Versäumnissen vor allem in Wien und Berlin.

Kultur: Tim Schleider (schl)
Stuttgart - - Die StZ-Kolumne „Dreiunddreißig Tage“ dokumentiert die Zeit zwischen dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 und dem eigentlichen Kriegsausbruch. In lockerer Reihe beleuchten Historiker, welche politisch-diplomatischen Fehler damals zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ führten – zum Auftakt heute der Berliner Historiker Ernst Piper.
Herr Piper, führte das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 zwangsläufig zum Ersten Weltkrieg?
Nein, so kann man das nicht sagen. Geschichte vollzieht sich nie zwangsläufig. Es gibt immer Handlungsalternativen und Spielräume für die Handelnden. Ein Attentat ist für sich genommen noch kein ausreichender Grund, einen Krieg zu erklären. Aus gutem Grund differenziert der Historiker zwischen tieferen Ursachen und äußeren Anlässen.
Immerhin wurde der österreichische Thronfolger ermordet. Nicht ohne Grund wurden Hintermänner dieses Attentats in Serbien vermutet, und die serbische Regierung hätte die Möglichkeit gehabt, offensiv diese Zusammenhänge aufzuklären und sich so davon zu distanzieren.
Diese Forderung hat Österreich in seinem Ultimatum erhoben, allerdings erst am 23. Juli, also vier Wochen nach dem Attentat. Und im Kern hat Serbien diese Forderungen auch akzeptiert. Allerdings war Österreich zu diesem Zeitpunkt schon zum Krieg entschlossen, nachdem es vom Deutschen Reich Rückendeckung für einen Krieg gegen Serbien erhalten hatte.
Österreich nutzte das Attentat als Vorwand?
Österreich-Ungarn versuchte seit Jahren, seinen Einfluss auf dem Balkan beständig zu erweitern, denken Sie nur an die Annexion von Bosnien und Herzegowina 1908. Es gab seit langem den Wunsch, auch Serbien dem Habsburgerreich einzuverleiben. Der Chef des österreichisch-ungarischen Generalstabs, Franz Conrad von Hötzendorf, hatte entsprechende Pläne in seiner Schublade liegen.
Welche Rolle spielte Deutschland dabei?
Österreich fühlte sich bestärkt durch den Blankoscheck, das Telegramm, das Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. und der Reichskanzler am 6. Juli an die österreichische Regierung sandte. Bethmann Hollweg hatte sich lange gegen die Zuspitzung der Krise gestemmt, aber am Ende überwog der deutschen Wunsch, Österreich-Ungarn, den letzten Verbündeten unter den europäischen Großmächten, nicht zu verlieren.
Hätte Berlin Wien bremsen können?
Das weiß man nicht, aber es wurde gar nicht versucht. Im Gegenteil: Wilhelm II. bestärkte die Österreicher in ihrem Wunsch, gegen die Serben vorzugehen. Die Julikrise war eine Zeit der gegenseitigen Rückversicherungen. Die Deutschen stärkten den Österreichern den Rücken, die Russen sicherten den Serben Bündnistreue zu, die Franzosen den Russen. Die einzigen, die sich weitgehend zurückhielten, waren lange Zeit die Briten, wobei klar war, dass sie eine Niederwerfung Frankreichs durch Deutschland nicht hinnehmen würden.
Hätte Deutschland insgesamt ausgleichender agieren können?
Das hätten alle Großmächte tun können und müssen, wobei die Handlungsspielräume objektiv wahrscheinlich größer waren, als sie von den Akteuren subjektiv gesehen wurden. Denken Sie nur an die deutsche Einkreisungspsychose. Die Deutschen fühlten sich von einer Welt von Feinden umgeben, während in Wirklichkeit die Bündniskonstellationen bis in den Krieg hinein noch in Bewegung waren.
Hätten die kriegskritischen Kräfte in Europa im Juli 1914 stärker agieren müssen?
Es gab nur eine große Kraft, die grundsätzlich pazifistisch eingestellt war und gegen den Krieg gekämpft hat bis zuletzt. Das war die europäische Arbeiterbewegung. Aber sie war nicht stark genug, den Krieg zu verhindern, sie hatte keinen Einfluss auf die jeweiligen nationalen Regierungen. In Berlin haben noch am 29. Juli 100 000 Menschen gegen den Krieg demonstriert, aber das war dem Kaiser egal. Nach der Verfassung konnte er, ohne das Parlament zu befragen, den Krieg erklären. Der Reichstag wurde erst drei Tage später einberufen, als die deutschen Soldaten schon in Belgien einmarschierten.
Der Krieg als Mittel der Politik war damals einfach zu selbstverständlich?
Krieg galt damals als probates Mittel, politische Ziele durchzusetzen. Wenn die Staatsmänner im Juli 1914 geahnt hätten, was für ein schrecklicher Weltkrieg begann, hätten sie sicherlich mehr getan, ihn zu verhindern. Aber die wirksame Deeskalation einer Krise, die Erhaltung des Friedens, kostet einen politischen Preis. Man muss Zugeständnisse machen. Dazu war niemand bereit.