Mit großer Skepsis verfolgt der ehemalige Nationalspieler Jens Lehmann die EM-Vorbereitung der deutschen Mannschaft. „Ich hatte mal ein gutes Gefühl, aber das hat sich verflüchtigt“, sagt der frühere VfB-Torwart.

Stuttgart – Mit großer Skepsis verfolgt Jens Lehmann die EM-Vorbereitung der Nationalmannschaft. „Ich hatte mal ein gutes Gefühl, aber das hat sich verflüchtigt“, sagt der frühere VfB-Torwart. „Mittlerweile denke ich: wenn die Deutschen die Vorrunde überstehen, wäre das ein großer Erfolg.“
Herr Lehmann, im letzten deutschen EM-Spiel, dem Finale 2008 gegen Spanien, standen Sie noch im Tor. Wie sehr trauern Sie dem verpassten Titel hinterher?
Sehr natürlich. Ich saß diese Woche noch mit einem Freund zusammen, und wir haben über das Spiel gesprochen. Und er sah es so wie ich: wir sind damals in ganz entscheidenden Situationen benachteiligt worden. Das bleibt hängen. Ich werde den Schiedsrichter daher nicht vergessen.

Denken Sie auch noch manchmal an das entscheidende Tor von Fernando Torres?
Auch das hat sich mir leider eingebrannt. Und das Bittere ist: man kann es nicht mehr gutmachen.

Die Frage lautete immer: War es Ihr Fehler – oder der von Philipp Lahm?
Ich habe es immer so gehalten, dass ich auf mich geschaut und bei mir den Fehler gesucht habe. Ich hätte vielleicht den Arm heben oder etwas verzögern sollen. Torres hatte aber auch Glück: Der Ball war eigentlich für den Pfosten bestimmt und hat es sich im letzten Moment anders überlegt.

Wie bewerten Sie die Entwicklung des deutschen Teams seit diesem verlorenen Finale? Viele sagen, es sei die beste Mannschaft, die es je gegeben hat.
Ich glaube, die beste Mannschaft war die von 1990. Vielleicht auch die von 1974, aber das kann ich nicht richtig beurteilen. Es geht ja immer darum, Titel zu gewinnen. Die jetzige Mannschaft ist sicherlich technisch sehr gut, besser jedenfalls als die Mannschaften, in denen ich noch gespielt habe. Taktisch ist sie auch ganz gut, da hat Joachim Löw einen großen Anteil.

Nur ganz gut?
Die Spanier sind in diesem Bereich noch immer weiter. Sie stehen vor uns, weil sie in ihren Vereinsmannschaften eine bessere Ausbildung haben als viele deutsche Spieler und da eben auch zum größten Teil in Barcelona zusammen spielen.

Dann reicht es diesmal wieder nicht, die Spanier zu besiegen?
Ich muss ehrlich gestehen: ich hatte mal ein sehr gutes Gefühl. Aber das hat sich in den vergangenen zwei, drei Wochen verflüchtigt. Mittlerweile denke ich: wenn die Deutschen die Vorrunde überstehen, dann wäre das schon ein großer Erfolg.

Warum so skeptisch?
Es ist immer so gewesen, dass die Vorbereitung enorm wichtig war. Diesmal gab es gerade für die Bayern-Spieler praktisch gar keine Vorbereitung. Und sie bilden nun einmal den Kern der Nationalelf. Zudem gibt es wichtige Spieler, die mit Verletzungen in die Vorbereitung gekommen sind. Wenn man all diese Leute spielen lassen will, könnte das ein Problem werden, weil ein Turnier in der Endphase über die Fitness entschieden wird. Das hat sich in den vergangenen Turnieren bei uns gezeigt. Die Spieler, die den Unterschied machen könnten, hatten häufig nicht mehr die Kraft.

Die Bayern haben aber immerhin bis zum Schluss in der Champions League gespielt.
Schon. Aber ich habe nicht verstanden, warum sie anschließend noch vier freie Tage bekommen haben. Das ist nicht optimal, weil in dieser Zeit weder ordentlich trainiert noch regeneriert wird.

Es hieß, die Bayern müssten erst den Schock der Niederlage verarbeiten und die Köpfe freibekommen.
Ich habe vor der WM 2006 mit dem FC Arsenal ein Champions-League-Finale gespielt. Ich bin sogar vom Platz geflogen, wir haben in der Verlängerung verloren – trotzdem stand ich zwei Tage später in Genf auf dem Platz und habe trainiert. Das mit dem Kopffreibekommen ist Quatsch. Um den Kopf freizubekommen, gibt es nichts Besseres, als Fußball zu spielen. Dann vergisst man seine sonstigen Probleme. Meine Erfahrung war immer, dass gerade die sehr guten Spieler immer weitergemacht haben – ganz egal was zuvor passiert ist.

Dann gibt es gar keine Hoffnung auf ein erfolgreiches Turnier?
Für mich zählen die Fakten: 2012 wurde mit Ausnahme der Partie gegen Israel noch kein Spiel gewonnen. Gegen Frankreich hat man verloren und gegen die Schweiz. Die Mannschaft, von der wir denken, dass sie Europameister werden könnte, das ist die Mannschaft von 2011. Seitdem sind sechs Monate vergangen, und es hat sich einiges verändert. Aber hoffen sollten wir immer.

Immerhin schwärmen alle von den guten Bedingungen während dieser Vorbereitung.
Das ist auch so. Der DFB bietet den Spielern ja auch die bestmöglichen Voraussetzungen: ein tolles Hotel, tolle Trainingslager im Süden, tolles Essen, tolle Trainer. Alles wird getan, damit sich die Spieler wohlfühlen. Als Profi hat man da auch die Verpflichtung zu sagen: So, jetzt müssen wir mal etwas zurückzahlen.

Bastian Schweinsteiger ist kurz vor der Abreise zur EM nach Capri geflogen.
Prinzipiell ist es so, dass Bastian Schweinsteiger den Traum von vielen Millionen Männern lebt. Er spielt um die Deutsche Meisterschaft, er spielt im Pokalfinale und im Endspiel der Champions League; er fliegt mit seiner Freundin nach Capri, liegt am Pool und entspannt sich ein bisschen. Da muss ich sagen: da würde man gerne mit ihm tauschen. Insofern ist ihm keinerlei Vorwurf zu machen. Es ist seine Privatsache.

Aber?
Er ist nun einmal in der Situation, dass er eine Europameisterschaft vor sich hat. Wir hoffen alle, dass er bei diesem Turnier sehr, sehr gut spielen wird. Dann ist alles in bester Ordnung. Wenn es nicht so laufen sollte, muss er sich darüber im Klaren sein, dass seine Capri-Reise hinterfragt werden wird.

Wie kommt das im Mannschaftskreis an?
Wäre ich noch sein Mitspieler, dann hätte ich gesagt: Junge, es ist alles okay, solange du gut spielst. Das ist die Bedingung. Gleiches gilt für Jérôme Boateng, der ja offensichtlich am Vorabend der Abreise bis in die Nacht unterwegs war. Er kann auch bis sechs Uhr morgens wegbleiben und sich sogar betrinken, wenn er mag. Er muss nur gut spielen. Andernfalls würde er sicherlich ein Problem bekommen. Allerdings glaube ich nicht, dass ein Mitspieler sie darauf hinweisen wird, da das enormen Druck für den Kritiker bedeutet. Solche Spieler sind wirkliche Führungsspieler!

Haben Sie den Eindruck, dass vielen die dafür nötige Professionalität fehlt?
Wir haben nur zwei Momentaufnahmen gesehen. Die eine war in schönster Atmosphäre auf Capri, die andere in einer Berliner Bar. Ich kenne Jérôme Boateng nicht. Vielleicht ist er ja der professionellste Spieler, den es gibt. Und Bastian Schweinsteiger hat eine sehr gute Einstellung zu seinem Beruf, sonst wäre er in so jungen Jahren nicht schon so weit gekommen. Bislang ist also alles okay. Für den Fall einer wenig erfolgreichen EM wird er aber sicherlich, wie alle anderen, hinterfragt werden, ob die Vorbereitung perfekt war.

Die Dortmunder haben sich nichts zuschulden kommen lassen – trotzdem kommen sie im Nationalteam nicht richtig in Schwung. Überrascht Sie das angesichts der Tatsache, dass sie zuletzt so überragend waren?
Dass die Dortmunder auf internationaler Ebene Probleme haben, hat man ja schon in der Champions League gesehen. Dort werden Fehler nun einmal viel härter bestraft als in der Bundesliga. International ist das Niveau viel anspruchsvoller. Da müssen und werden die Dortmunder dazulernen. Aber vielleicht wird gerade einer von ihnen die Entdeckung der EM.

Gibt es für sie überhaupt Platz?
Jeder Trainer verlässt sich gerne auf etwas, was sich bewährt hat, auch Joachim Löw. Die Bayern-Spieler haben die nötige internationale Erfahrung und sind erfolgreich. Warum sollte der Bundestrainer also hingehen und dieses Konzept über den Haufen werfen? Allerdings ist es nicht optimal, dass es in Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose drei Spieler gibt, die zum Stamm gehören, jedoch lange Verletzungspausen hinter sich haben. Ich glaube nicht, dass Joachim Löw alle drei spielen lassen wird.

Wie sehen Sie denn die Entwicklung des Bundestrainers?
Es ist unbestritten, dass er diese Mannschaft sehr weiterentwickelt hat. Das Spiel trägt ganz klar seine Handschrift. Er hat ein Auge dafür, was nicht so gut läuft, und er weiß, wie er die Fehler beheben muss. Jetzt muss natürlich der nächste Schritt kommen: dass er einen Titel gewinnt.

Dann gibt es doch noch eine Resthoffnung?
Wenn es der Bundestrainer unter diesen nicht optimalen Umständen schafft, Europameister zu werden, dann wird man hinterher sagen: Joachim Löw hatte neben Können auch Magie.