Jossi Wieler, der neue Chef der Staatsoper Stuttgart, glaubt an die Zukunft von Intendanten, die an ihren Häusern exklusiv Regie führen.

Stuttgart - Überraschend an Jossi Wielers Wahl zum Stuttgarter Opernintendanten war vor allem, dass der Regisseur überhaupt bereit war, ein Amt zu übernehmen, das ihn fest an ein Haus bindet. Er betrete jetzt Neuland, sagt er.

 

Herr Wieler, Sie sind gerade aus Jerusalem gekommen: 1972 sind Sie nach Tel Aviv gegangen, haben dort acht Jahre studiert und erste Gehversuche als Regisseur gemacht. Sie kehren regelmäßig nach Israel zurück. Was verbindet Sie mit dem Land?

Vor allem die Familie. Mein Vater lebt im biblischen Alter von 99 Jahren in Jerusalem, und ich möchte ihn natürlich, so oft es mir möglich ist, besuchen; außerdem leben dort zwei Geschwister mit ihren Familien, mit denen ich engen Kontakt habe, und Freunde aus Studienzeiten.

Beeinflusst die aktuelle Situation dieses Staates Ihr Denken als Künstler?

Ich bin kein ideologisch-politischer Künstler, keiner, der mit einer Message kommt, die gleich lesbar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Das Schwarz-Weiß-Zeichnen interessiert mich am Theater ohnehin nicht, sondern die Komplexität von politischen und Beziehungssystemen zu durchleuchten und dadurch zum Nachdenken anzuregen. Doch ich bin durchaus ein politischer Mensch. Ich habe ein kritisches Verhältnis zur israelischen Politik, aber eine große Nähe zur Gesellschaft und den Menschen dieses Landes. Es gibt Orte, wie die Stadt Tel Aviv, an denen ich trotz aller Spannungen Wärme und Herzlichkeit fühle.

Kann man das Heimat nennen? Oder fühlen Sie sich heimatlos, der Sie aus einer deutsch-schweizerisch-jüdischen Familie kommen?

Ich habe mich immer für Heimat, Herkunft, für die eigene Geschichte interessiert. Der süddeutsche Raum, die Landschaft um den Bodensee, dort wo ich aufgewachsen bin, haben mich stark geprägt. Obwohl ich keinen Kontakt mehr habe, fühle ich mich dort verwurzelt. Es ist eine Gemengelage: Israel, die deutsche Kultur sind auch meine Heimat. Und schließlich das Theater, da, wo mein Herzblut fließt - vielleicht ist das meine eigentliche Heimat.

Wie August Everding, wie Hans Neuenfels - auch Regisseure, die zeitweise Intendanten waren - kommen Sie vom Schauspiel. Wie sieht Ihre Beziehung zur Oper aus, können Sie von ersten Besuchen, Erfahrungen, Erlebnissen berichten?

Mit zehn Jahren durfte ich mit meiner Großmutter ins Zürcher Opernhaus, gespielt wurde natürlich die "Zauberflöte"; in das Aufführungsbuch, das ich dazu geschenkt bekam, notierte ich unter der Rubrik Besetzung: "fast voll besetzt". Es hat mich schon beeindruckt, überhaupt habe ich gerne klassische Musik gehört, aber nie so, dass der Wunsch entstanden wäre, da beruflich einzusteigen. Bei der Theaterregie hat mich Musik aber immer begleitet, und als ich am Theater in Basel engagiert war, habe ich mir alle aktuellen Opernproduktionen angesehen. Damals arbeiteten dort Herbert Wernicke und Albrecht Puhlmann, mit denen ich oft im Gespräch zusammensaß. Aber konkret war es tatsächlich Klaus Zehelein, der mich fragte, ob ich Mozarts "La clemenza di Tito" inszenieren wolle. Und so geschah es, 1994 in Stuttgart.

Das heißt, Sie konnten auf keine Arbeitserfahrungen in der Oper verweisen?

Ich habe in Israel einmal bei einem Gastspiel der Wiener Staatsoper in Caesarea als Regieassistent gearbeitet, um 1977 war das. Es gab "Fidelio" mit Gundula Janowitz und Jon Vickers in der alten Otto-Schenk-Inszenierung, Zubin Mehta dirigierte, und ich war für die hundert Statisten verantwortlich. Ich habe die halbe Uni mobilisiert und organisiert. Auch damals hatte ich nicht das Gefühl, dass das etwas ist, was ich mein Leben lang machen möchte.

Und jetzt das: Sie stehen einem Opernhaus vor, einem hierarchischen Kunstbetrieb schlechthin, wo doch das Un-, ja Antihierarchische der Arbeit im und am Theater erklärtermaßen immer Ihr Ziel war.

Vielleicht sollten wir in einem Jahr darüber reden, denn das Amt ist tatsächlich für mich eine Zäsur, Neuland. Ich hoffe jedenfalls, vom Kleinklein des Betriebs nicht aufgefressen zu werden. Allerdings war ich auch als Regisseur permanent in Situationen, in denen ich allein Entscheidungen treffen und verantworten musste. Das werden jetzt Entscheidungen sein, die wehtun können, anderen, auch mir selbst; man muss ein Gleichgewicht finden zwischen Vernunft und Herz, es gilt immer wieder intuitiv abzuwägen. Das schließt nicht aus, dass man versucht, die Dinge im Dialog zu klären.

Die Staatsoper Stuttgart als Werkstatt

Was fesselt Sie am Musiktheater?

Das sind verschiedene Aspekte. Zunächst das kollektive Kunstwerk, das erst möglich wird durch verschiedene Spezialisten. Jedes Chormitglied ist ein ausgebildeter Sänger, die Musiker im Graben und die Solisten natürlich auch, und was ein Inspizient können muss, um eine Vorstellung zu "fahren" - das beeindruckt mich und ist nochmals komplexer als im Schauspiel. Und dann: die Anforderungen des Materials sind in der Oper so konkret! Da geht es nicht wie im Schauspiel nur um eine Psychologie, bei der oft nicht klar ist, geht es noch um die Figur oder dreht es sich nur noch um die Befindlichkeit des Schauspielers. Mich begeistert, was Sänger mitbringen an Disziplin und Offenheit. Sie haben ihre Partie bis zur ersten szenischen Probe musikalisch bereits verinnerlicht, um voraussetzungslos und selbstvergessen gemeinsam mit der Regie zu spielen und zu experimentieren. Bei Schauspielern ist das manchmal umwegiger und verstellter.

Diese Offenheit der Sänger hat übrigens Sebastian Baumgarten, ebenfalls ein Regisseur, der Oper und Schauspiel inszeniert, genau wie Sie hervorgehoben.

Leider wird diese Offenheit oft ausgenutzt von Regisseuren und Dirigenten. Deshalb ist es wichtig, passende Teams, Ensembles zusammenzustellen. Man kann dann als Regisseur dem wachen Geist und der Intelligenz der Sänger Verantwortung übertragen. Viele unserer schönsten szenischen Findungen kann ein Regisseur gar nicht erfinden, er kann nur den Boden bereiten. Der Sänger "bringt" es dann sozusagen. Es freut einen viel mehr, wenn der szenische Prozess eine Eigendynamik gewinnt, als wenn man jede Bewegung vorgeben müsste.

Worin wird sich Stuttgart von Häusern wie München, Zürich, Frankfurt unterscheiden?

Dieses Haus wird sich von den genannten durch die beiden dominanten Regielinien unterscheiden, hier Andrea Moses, die gleich in der ersten Spielzeit drei Stücke inszenieren wird, dort das Team Wieler/Morabito mit zwei Neuinszenierungen. Ich hoffe, dass das einen gewissen Stil, die Arbeitsatmosphäre, und - um ein großes Wort zu verwenden - ein Arbeitsethos prägen wird. Wenn ich mich umschaue, dann sehe ich, dass diese Häuser in ihrer künstlerischen Ausprägung nicht so verschieden sind. Mehr oder weniger tauchen die gleichen Regienamen auf. Ich wünsche mir für Stuttgart eine Unverwechselbarkeit, und die hängt von Kontinuität und Verbindlichkeit ab. Die Stuttgarter Oper war immer schon vom Ensemblegedanken geprägt, bereits in den Zeiten von Walter Erich Schäfer und Wolfram Schwinger.

Geplant ist, dass pro Spielzeit mindestens je zwei Neuinszenierungen vom Duo Wieler/Morabito und von der Hausregisseurin Andrea Moses verantwortet werden, dazu eine Arbeit eines Gastregisseurs. Man könnte spontan ausrufen: ein Regiekloster! Entsteht dadurch nicht Monotonie? In fünf Jahren wird es insgesamt nur fünf zusätzliche Regiefarben geben.

Aber es sind doch nicht die Regisseure, die die Ästhetik einer musiktheatralischen Veranstaltung diktieren sollten - auch wenn das immer öfter so passiert! Nein, unsere Dialogfähigkeit mit den Werken ist doch entscheidend, sie ist es, die für ästhetischen Reichtum sorgt, nicht die beliebig anwendbare und austauschbare "Verpackung". Und vergessen Sie nicht: das, was wir vorhaben ist ja nicht neu, denken Sie an den Intendanten-Regisseur Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin oder im Schauspiel an die große Zeit der Schaubühne mit den Antipoden Michael Grüber und Peter Stein.

Ja, Felsenstein hatte aber acht, neun Premieren und nicht fünf oder sechs.

Das mag sein. Dennoch, worauf ich hinausmöchte: Regisseure wie Günther Rennert und Ernst Poettgen haben in Stuttgart an einem Ort gearbeitet und in ein Haus investiert. Aus meiner Erfahrung hier könnte mit dem Potenzial des ganzen Hauses, den Werkstätten, der Technik und nicht zuletzt auch dem Stuttgarter Publikum etwas entstehen, das woanders so nicht möglich ist. Ja, ich bin mit einem gewissen Maß an Arroganz oder Eitelkeit, wie immer man das nennen mag, überzeugt, dass hier bei unseren Inszenierungen oft etwas Besonderes entstanden ist, und deshalb werde ich exklusiv in Stuttgart Regie führen, auch in den nächsten Jahren kein Schauspiel inszenieren. Man könnte das auch als Selbstbeschränkung oder Bescheidenheit bezeichnen.

Dennoch, gehen wir mal vom Publikum aus, das wird nur drei Handschriften sehen...

Die Arbeiten von Moses und Wieler/Morabito unterscheiden sich ästhetisch, so wie auch meine Arbeiten mit Morabito immer wieder andere Theaterwirklichkeiten geschaffen haben: "Alcina" sieht ganz anders aus als "Siegfried" - obwohl beide Male Anna Viebrock die Bühne und die Kostüme gemacht hat. Im Moment schaffen wir es noch, nicht zuletzt auch uns selbst immer wieder zu überraschen. Das setzt allerdings voraus, dass die Inszenierungsarbeit ein offener, lebendiger Prozess bleibt, und das ist es auch, was wir an den Regisseuren lieben und bewundern, die wir einladen.

Sollte ein Opernhaus der Größe und des Ranges Stuttgarts nicht allein Originalinszenierungen zeigen? Der "Don Giovanni" von Andrea Moses zum Ende Ihrer ersten Spielzeit ist eine Bremer Produktion von 2010, in der Spielzeit 2013/14 wird Moses' Dessauer "Chowanschtschina" hier gezeigt.

Auch Peter Konwitschnys "Elektra" oder unser "Doktor Faust" hatten anderswo Premiere und waren dennoch wichtige Produktionen der Zehelein-Ära. Der "Don Giovanni" und die "Chowanschtschina" sind tolle Inszenierungen, auf die man sich freut, sie noch mal zu sehen, und die hier mit einem distanzierten Blick frisch erarbeitet werden. Die Staatsoper Stuttgart wird eine Werkstatt sein und überregionale Ausstrahlung haben.

Ein Intendant tritt an und eröffnet die Spielzeit der Staatsoper Stuttgart

Person Jossi Wieler wurde 1951 in Kreuzlingen auf der Schweizer Seite des Bodensees geboren. Nach Studium und ersten Theaterarbeiten in Israel kam er 1980 nach Deutschland zurück. Feste Stationen waren Düsseldorf, Heidelberg, Basel und das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg. Seit 1994 hat er mit dem Dramaturgen Sergio Morabito 23 Opern inszeniert, 14 davon standen in Stuttgart auf dem Spielplan. In seiner ersten Spielzeit als Intendant wird Wieler zwei Premieren verantworten: im Januar 2012 Bellinis "Nachtwandlerin" und im März 2012 den Doppelabend mit Werken von Schönberg und Janácek: "Die glückliche Hand/Schicksal(Osud)".

Auftakt Mit Gesprächen, öffentlichen Proben, einem Konzert sowie einem Theaterfest eröffnet die Staatsoper Stuttgart am kommenden Samstag die Spielzeit - beste Gelegenheit für das Publikum, von 12 bis 1 Uhr nachts das neue Leitungsteam und das Ensemble kennenzulernen.

Informationen zum Spielzeitauftakt finden Sie hier.

Buchveröffentlichung Aus Anlass von Jossi Wielers sechzigstem Geburtstag ist ein reich bebildertes Buch über seine Regiearbeiten für Schauspiel und Oper entstanden. Der Band enthält auch einen Essay von Elfriede Jelinek. Wieler hat etliche Werke der Nobelpreisträgerin inszeniert. Dazu gehört "Rechnitz (Der Würgeengel)", die Aufführung liegt dem Buch als DVD bei. Hajo Kurzenberger (Hg.): Jossi Wieler - Theater. Alexander Verlag, Berlin/Köln. 240 Seiten, DVD, 29,90 Euro.