Die Spitzenkandidatin der Grünen in Baden-Württemberg, Kerstin Andreae, kritisiert den Wahlkampf der AfD – und sieht als Schlüsselfrage des Wahlkampfes, welche Partei am Ende dritte Kraft im Bundestag wird.
13.09.2017 - 14:21 Uhr
Stuttgart - Nach der Bundestagswahl könnten die Grünen eine Schlüsselrolle bei der Regierungsbildung spielen – entweder für Schwarz-Grün oder für eine Jamaika-Koalition mit CDU/CSU und FDP. Ein Gespräch mit Kerstin Andreae, Spitzenkandidatin der Grünen in Baden-Württemberg, über eine erstarkende AfD, grüne Flüchtlingspolitik und Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung.
Frau Andreae, der Zuspruch zu den Grünen wird in der Schlussrunde des Wahlkampfes laut Umfragen kleiner statt größer. Was läuft schief in ihrer Kampagne?
Der Zulauf bei unseren Veranstaltungen und das Interesse an grüner Politik sind deutlich höher als in anderen Bundestagswahlkämpfen. Das spiegelt sich aber tatsächlich noch nicht in den Umfragen wider. Deshalb ist die Schlussphase des Wahlkampfes für uns so wichtig. Dabei geht es vor allem um die Frage, wer wird drittstärkste Kraft im Bundestag.
Was müssen die Grünen tun, um dieses Rennen um Platz drei noch zu gewinnen?
Wir müssen vermitteln, worum es dabei geht. Sie finden doch heute niemanden mehr, der dagegen wettet, dass Angela Merkel wieder Kanzlerin wird. Dann kommt es also darauf an, wer mit ihr regiert. Regiert die CDU mit der SPD weiter, geht es weder beim Klimaschutz noch in der Verkehrspolitik voran. Regiert sie gar mit der FDP, werden wir erleben, dass Umwelt- und Klimaschutz und soziale Errungenschaften abgebaut werden. Deren Programm im Bereich Umwelt und Naturschutz ist ein Albtraum. Fortschritt, Innovation und Mut, die Themen wirklich anzupacken, gibt es nur mit den Grünen. Sowohl die Große Koalition wie Schwarz-Gelb kann man nur mit starken Grünen verhindern.
Im Moment sieht es eher so aus, als würde die AfD vor den Linken, der FDP und den Grünen ins Ziel kommen…
Wir hatten eine Phase im Wahlkampf, in der die AfD nur eine Nebenrolle spielte. Jetzt versucht sie gerade, durch widerliche Provokationen und aggressives Verhalten wieder ins Gespräch zu kommen. In dieser Auseinandersetzung spielen wir Grünen die entscheidende Rolle. Wir sind der originäre Gegenpol zur AfD, weil wir für eine weltoffene Gesellschaft, religiöse Toleranz und ein modernes Frauen- und Familienbild stehen. Es darf nicht sein, dass eine fremdenfeindliche und in Teilen rechtsextremistische Partei zur größten Opposition im Bundestag wird.
Das Thema Flüchtlinge kommt bei den Grünen auf Platz zehn ihres Zehn-Punkte-Wahlprogramms, bei den Wählern ist es mit großem Abstand das wichtigste Thema. Machen Sie Wahlkampf an den Interessen der Bürger vorbei?
Nein. Es ist richtig und notwendig, dass wir Grünen die Ökologie und den Klimaschutz ins Zentrum unseres Wahlkampfes stellen. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal, das entspricht der DNA unserer Partei – und damit hängt vieles zusammen. Wenn wir über Flüchtlinge reden, müssen wir auch über Fluchtursachen reden, die durch einen ungehemmten Klimawandel verschärft werden. Natürlich haben die Bürger viele Fragen, wie sich Zuwanderung steuern lässt und wie Integration gelingen kann. Aber wir Grünen werden dabei nie nach rechts ausschwenken, wir werden keine Obergrenze wie die CSU fordern – sondern unsere Position immer an Humanität, Toleranz und ökonomischer Vernunft orientieren.
Reden die Grünen bei dem Thema nicht mit gespaltener Zunge? Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekennt sich klar zu Abschiebungen und praktiziert sie auch. Sie dagegen unterstützen in ihrem Wahlkreis Freiburg, dass eine serbische Roma-Familie durch Bürger vor den Behörden versteckt wird.
Wir Grünen sagen klipp und klar, dass nicht jeder bleiben kann, der zu uns kommt. Das bedeutet ja schon rein logisch, dass wir Abschiebungen nicht ausschließen. Der Freiburger Fall zeigt, in welchem Dilemma die Politik manchmal steckt. Da geht es um eine Mutter mit sechs Kindern, teilweise mit schweren Erkrankungen. Sie wurden 2015 abgeschoben. Das hat zu einem Aufschrei der Empörung in Freiburg geführt und man hätte schon damals anders entscheiden können. Nun ist diese Frau mit den Kindern wieder in Deutschland, ich weiß nicht wie. Eine Freiburger Familie hat sie aufgenommen, ich weiß nicht wo. Der Gesundheitszustand der Kinder ist sehr schlecht. Deshalb gibt es ein breites Bündnis in Freiburg, das sich dafür einsetzt, dass abgewartet wird, bis in Kürze über eine Petition entschieden ist, die der Roma-Familie ein Bleiberecht aus humanitären Gründen ermöglichen soll.
Ist es Aufgabe einer Bundestagsabgeordneten, sich über das Gesetz zu stellen?
Nein, das tue ich auch nicht. Ich plädiere dafür, dass die vorhandene rechtliche Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel zu erteilen in diesem Härtefall genutzt wird. Und so lange soll die Familie bleiben dürfen. Es geht um sechs Kinder, die schon lange bei uns gelebt haben. Man muss auch mal das Herz sprechen lassen.
Welche Bedingungen stellen Sie in der Flüchtlingspolitik für eine mögliche Koalition mit der CDU?
Eine Obergrenze machen wir nicht mit. Auch das Konzept, mehr Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, halten wir für nicht richtig. Und wir wollen ein Einwanderungsgesetz, das sich vom „Fachkräftezuwanderungsgesetz“ der CDU deutlich unterscheidet. Nur ein Beispiel dazu: Ich habe in Südbaden inzwischen rund hundert Betriebe, die Flüchtlinge eingestellt haben. Häufig sind es Flüchtlinge aus Gambia, die nur in absoluten Ausnahmefällen einen Asylanspruch haben. Statt diese Menschen abzuschieben, sollten wir ihnen einen Spurwechsel aus dem Asylrecht in das Einwanderungsrecht ermöglichen – sodass sie weiter hier arbeiten können.
Wie ernst ist es Ihnen mit der Forderung, ab 2030 nur noch abgasfreie Autos neu zuzulassen? CSU-Chef Seehofer sagt, dann werde es keine Koalition mit den Grünen geben.
Die Bedingung ist, dass wir einen Pfad festlegen und Planungssicherheit schaffen in diesem großen Sektor der Autoindustrie. Ob wir es dann bis 2030 oder erst bis 2033 schaffen, ist mir egal.
Gefährden Sie nicht mit einem schnellen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor zehntausende Arbeitsplätze in Baden-Württemberg?
Wir wollen eine Umstrukturierung, gerade weil wir die Jobs erhalten wollen. Der Blick ins Ausland zeigt doch, dass andere beim Einstieg in die E-Mobilität viel weiter sind als wir. Da müssen wir zügig hinterher.
Winfried Kretschmann hat die Grünen eindringlich gewarnt, das Jahr 2030 als festes Ausstiegsdatum zu nennen. Das werde sie bei der Bundestagswahl in Richtung der Fünf-Prozent-Hürde drücken. Zeigt sich nun, dass er Recht hatte?
Er hat die Nennung des Datums als notwendigen Weckruf bezeichnet. Es ist doch erschreckend, wie wenig der Klimaschutz derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung eine Rolle spielt. Beim TV-Duell von Merkel und Schulz hatten wir in einer Woche weltweit drei Jahrhunderthochwasser – und trotzdem ist in der Fernsehdebatte kein einziges Mal das Wort Klimaschutz aufgetaucht. Das war nachgerade peinlich. Wir als Grüne haben mit dem Stichwort „2030“ eine notwendige Debatte angestoßen, und darüber bin ich froh. Es war übrigens ein grüner Ministerpräsident, der als erster einen strategischen Dialog mit der Automobilindustrie begonnen hat. Das ist vorausschauende Politik.
Das Interview führten Christoph Link, Rainer Pörtner und Arnold Rieger