Klaus Mangold, der frühere Chef des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, fordert von Europa ein eigenständiges Verhalten gegenüber Russland. Nach seinem Eindruck schadet sich Europa zurzeit selbst.

Stuttgart – - Russlands Wirtschaft steckt tief in der Krise: Das Bruttoinlandsprodukt ist 2015 um 3,7 Prozent geschrumpft. Die Verbraucher halten sich beim Konsum zurück, die Betriebe investieren nicht, und der Außenhandel ist eingebrochen; die Inflation liegt oberhalb von zehn Prozent, und Unternehmen kürzen Löhne oder streichen Stellen. Klaus Mangold, Exchef des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, befasst sich intensiv mit Russland. Einen Staatsbankrott befürchtet der Unternehmensberater, der früher im Daimler-Vorstand saß, nicht. Im Interview mahnt er aber dringend Reformen an.
Herr Mangold, wann waren Sie zuletzt in Russland?
Ich bin alle zwei bis drei Wochen in Russland, vorwiegend in Moskau.
Wenn Sie durch die Straßen der russischen Metropole laufen, was hat sich dort in den letzten Jahren verändert?
Die Stimmung hat sich deutlich verschlechtert. Die verfügbaren realen Einkommen sind gesunken und damit die Kaufkraft und der private Konsum der Menschen. Diese Entwicklung trifft den Nerv des Landes. Das spüren Sie in allen Gesprächen. Und das sehen Sie in Geschäften und vor allem in den Restaurants, die wesentlich schlechter besucht sind als vor ein oder zwei Jahren.
Liegt das an den EU-Sanktionen?
Das hat natürlich auch mit den EU-Sanktionen zu tun. Aber den weitaus größeren Einfluss hat der Rückgang der Ölpreise. Der Umgang mit den Sanktionen war zu Beginn schwierig, aber inzwischen verpufft ihre Wirkung nahezu komplett. Weh tun sie vor allem noch im Finanzbereich, weil westliche Banken oft keine Finanzierungen übernehmen dürfen.
Wie ölabhängig ist Russland denn?
Dies lässt sich an zwei Zahlen veranschaulichen: Zum einen hängt die Hälfte der staatlichen Einnahmen an Öl und Gas. Und zum anderen entfallen 70 Prozent der Exporte auf Öl und Gas. Und nun kommen die Währungsrelationen ins Spiel: Wenn, wie in den vergangenen Monaten geschehen, der Öl- und Gaspreis drastisch sinkt, wirkt sich dies unmittelbar auf die Wechselkurse vom Rubel zu Euro und Dollar aus. Die Importe von Maschinen, Fahrzeugen und Ausrüstungsgütern haben sich drastisch verteuert. Auch die Preise für Nahrungsmittel sind in die Höhe gegangen. Diese Kumulation von Negativeffekten hat zu einem Rückgang des privaten Konsums um mehr als zehn Prozent geführt und zu einer Abschwächung des Bruttosozialprodukts generell.
Wie gut ist derzeit die Versorgung mit Nahrungsmitteln?
Was hierzulande weniger bekannt ist: als die russische Regierung als Reaktion auf die EU-Sanktionen die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus Europa gestoppt hat, ist die Türkei in die Bresche gesprungen. Vor allem Obst und Gemüse hat Russland von dort bezogen. Doch dieser Weg ist mittlerweile versperrt. Die Auseinandersetzung zwischen Russland und der Türkei wegen des Abschusses eines Kampfflugzeugs hat zu einem Quasistopp der Importe geführt.
Was macht Russland nun?
Die Konsequenz daraus ist, dass Russland sich nun unabhängiger von Lieferungen aus dem Ausland machen will. Russische Unternehmen investieren massiv in den Aufbau einer eigenen Lebensmittelindustrie – und die russische Regierung unterstützt sie dabei. Westliche Maschinen und Anlagen in diesem Bereich sind willkommen. Die Nachfrage danach ist zuletzt deutlich gestiegen.
Wie unterstützt der Kreml Unternehmen?
Der Staat hat die Rahmenbedingungen verbessert. Investitionswillige Unternehmen bekommen Grundstücke zu ermäßigten Preisen, wenn sie Aktivitäten im Bereich Landwirtschaft und Ernährung entfalten. Die regionalen Gouverneure stellen ihnen Infrastruktur wie Straßen und entsprechende Anschlüsse zur Verfügung. Und wer gut verhandelt, bekommt auch noch verbilligte Energie, etwa um Treibhäuser zu beheizen, oder Steuererleichterungen. Ich kenne einen Unternehmer, der in der Vergangenheit im Metallbereich tätig war und jetzt in den Aufbau einer Tomatenproduktion investiert hat. Er hat eine riesige Anlage zwei Autostunden von Moskau entfernt aufgebaut und produziert dort wöchentlich 70 Tonnen Tomaten. Holländische, spanische und deutsche Firmen sind Partner beim Aufbau dieser Anlage.
Hören wir richtig? Deutsche Unternehmen investieren in Russland?
Insgesamt sind die Investitionen deutscher Unternehmen in den vergangenen zwei Jahren zwar um 40 bis 50 Prozent zurückgegangen, aber es gibt Unternehmen, die antizyklisch investieren – auch wegen der aktuell günstigen Bedingungen. Ich weiß von mindestens drei Mittelständlern aus Baden-Württemberg, die ein klares Interesse an Investitionen in Russland bekundet haben. Die Volumen liegen dabei zwischen acht und 25 Millionen Euro. Im Übrigen: die wechselkursbedingten hohen Einfuhrpreise machen jetzt oftmals eine Investition im Lande wirtschaftlicher als zuvor.
Russland steht mit dem Rücken zur Wand. Befürchten Sie einen Staatsbankrott?
Ich glaube nicht, dass Russland mit dem Rücken zur Wand steht. Die Verschuldung im Ausland ist gering, und die Gefahr eines Staatsbankrotts sehe ich nicht. Der russische Staatsfonds ist im Jahr 2015 zwar um 35 Milliarden Dollar gesunken, er enthält aber immer noch knapp 100 Milliarden Dollar. Und die Währungsreserven liegen bei 308 Milliarden. Ich mache mir keine Sorgen, dass Russland seine Kredite nicht pünktlich bedienen kann. Eine Problemgruppe gibt es allerdings: die Banken. Sie benötigen eine Rekapitalisierung – aber das haben auch unsere Banken vor einigen Jahren durchlitten. Alarmglocken läuten da nicht. Klar ist aber auch: solange der Ölpreis so niedrig ist, bleibt die Situation labil. Jetzt wird das Versäumnis der russischen Regierung offensichtlich, dass die Industrie nicht modernisiert wurde, solange der Ölpreis hoch war, und ich hoffe sehr, dass der Besuch des russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew in einer Woche in Deutschland Konturen einer kräftigen Reformpolitik deutlich macht.
Hat Putin eine Strategie, um die Krise zu bewältigen?
Eine durchgreifende wirtschaftliche Reformpolitik ist zumindest nicht erkennbar. Doch daran wird kein Weg vorbeiführen. Russland muss unabhängiger von Öl und Gas werden.
Wie zügig kann eine russische Industrie aufgebaut werden?
Das wird dauern. Um nicht zu stark an Innovationskraft zu verlieren, wird das Land auf Technologie von außen angewiesen sein. In der Metallverarbeitung, bei Eisen, Stahl, Aluminium und Titan sind sie ja nicht schlecht. Aber in anderen Industriebereichen, etwa der Autoproduktion, ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit ein Problem.
Lässt sich die russische Wettbewerbsfähigkeit in Zahlen fassen?
Es gibt eine Schlüsselzahl: In den vergangenen 15 Jahren lag der Anteil industrieller Produkte an den Gesamtexporten konstant zwischen 15 und 20 Prozent. Relativ ist das Land damit zurückgefallen – auch gegenüber Indien und China. Das treibt die junge Elite in Russland um.
Westliche Unternehmen sind sanktionsbedingt die Hände gebunden, also ist China quasi der natürliche Partner?
Vergessen Sie es. Wenn Sie mit chinesischen Unternehmern über Russland reden, dann achten diese auf ihre ureigensten Interessen; sie beteiligen sich in Russland an Rohstoffen und Chemie. Aber wirklich helfen, dass Russland wirtschaftlich vorankommt, vor allem mit Technologietransfer – Fehlanzeige.
Haben die Chinesen denn die EU-Sanktionen nicht ausgenutzt?
Dieser Plan ist bisher mit Sicherheit nicht aufgegangen. China hat von der Situation nicht profitiert. Die deutschen Exporte nach Russland sind in den vergangenen zwei Jahren um insgesamt über 50 Prozent gesunken. Die Exporte von China nach Russland sind ebenfalls um über 30 Prozent zurückgegangen.
Sind deutsche Unternehmen in Russland noch willkommen?
Russische Unternehmer sehen das nüchtern. Wenn Deutsche dort tätig sein wollen, sind sie nach wie vor willkommen. Enttäuscht sind russische Unternehmer eher von der deutschen Politik, die noch rigider war als die in Italien und Frankreich.
Hegt der Kreml keine Rachegedanken und baut Bürokratie und Zollschranken auf?
Es gibt immer wieder mal einzelne Klagen, dass ein Lkw an einer Grenze aufgehalten wird, weil angeblich die Papiere nicht richtig ausgefüllt sind. Aber da ist kein System dahinter. Was mich umtreibt, ist ein anderes Thema: Wir kommen auf politischer Ebene nicht umhin, mit Russland wieder zu einem vernünftigen Verhältnis zu kommen. Wie geht man da vor? Die Sanktionen basieren ja allesamt auf der Situation in der Ukraine und auf der Krim. Beide Seiten – also Europa und Russland – müssen sich bewegen. Und dabei kommen die Russen nicht umhin, die Vorgaben des Minsker Abkommens umzusetzen. Wir brauchen wieder mehr Dialog zwischen uns, vor allem auch mit der EU.
Wie groß ist die Chance einer politischen Annäherung?
Ich glaube, die Chance ist größer als je zuvor. In der Ukraine sind die Russen auf dem Rückzug. Der Knackpunkt heißt unverändert Krim.
Wie schnell kann es gehen? Die Sanktionen wurden ja erst vor Kurzem wieder für ein halbes Jahr verlängert.
Sobald die EU erkennt, dass Russland einen signifikanten Schritt auf sie zugeht – dazu gehören etwa Wahlen in der Ostukraine und der vollständige Abzug der Truppen –, würde Brüssel die Sanktionen sicherlich auslaufen lassen oder sie zumindest mildern. Vor allem Finanztransaktionen sollten erleichtert werden. Doch ob die Amerikaner, deren Politik im kommenden Jahr vom Wahlkampf geprägt sein wird, mit den Europäern einer Meinung sind, da bin ich mir nicht sicher. Die EU sollte zu mehr Mut zur Eigenständigkeit in ihrer Politik zurückkommen.
Was meinen Sie konkret?
Interessanterweise sind die amerikanischen Exporte nach Russland weniger stark zurückgegangen wie die aus der EU oder aus Deutschland. 2014 sind unsere Exporte um fast 20 Prozent gesunken, die der Amerikaner sind aber nahezu konstant geblieben. 2015 sind unsere Exporte um mehr als 30 Prozent gesunken gegenüber einer geringeren Abschwächung der USA. Wir haben also Marktanteile gegenüber den USA eingebüßt. Das heißt: wir haben innerhalb von zwei Jahren mit einem Rückgang der Hälfte unserer Exporte viel von dem eingebüßt, was wir in vielen Jahren zuvor mühsam aufgebaut hatten.