Raimund Wilhelmi betreibt mit seiner Ehefrau in Überlingen die Buchinger-Wilhelmi-Fastenklinik. Allen Wellnesstrends zum Trotz – das Fasten unter ärztlicher Anleitung erfüllt seiner Ansicht nach auch die Sehnsucht vieler Menschen, zu sich selbst zu finden.

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Überlingen - Otto Buchinger gilt als Urvater des modernen Fastens. Die Generation um seinen Enkel Raimund Wilhelmi betreibt heute in Überlingen am Bodensee eine der renommiertesten Kliniken dieser Art in Europa. „Es ist notwendig, den Zähler immer mal wieder auf null zu stellen“, sagt der Unternehmer, der sich selbst als Genussmensch bezeichnet – aber drei, vier Wochen im Jahr dem Essen abschwört.

 
Herr Wilhelmi, haben Sie heute früh schon feste Nahrung zu sich genommen?
Tee und Vollkorntoast. Mir sieht man ja an, dass ich ein Genussmensch bin und gutes Essen und einen guten Wein schätze.
Da können Sie Ihren Gästen ja leicht Verzicht abverlangen. Fasten Sie auch?
Selbstverständlich. Ich übe mich jedes Jahr gerne drei, vier Wochen in Askese. Neben der Leitung dieser Klinik mit 300 Mitarbeitern und 150 Betten bin ich ja Präsident der spanischen Klinik , und der politische Virus hat mich auch erwischt: seit 40 Jahren bin ich aktiver Kommunalpolitiker. Da ist es gut, wenn der Körper mal richtig runter fährt.
Sie berufen sich auf die Lehren Ihres Großvaters Otto Buchinger. Schwebt sein Geist noch immer über dem Haus?
Keine Frage. Otto Buchinger war ein gebildeter Mann, belesen, spirituell veranlagt und als Marinearzt weit gereist – aber irgendwann in einer verzweifelten Lage.
Er litt an akutem, entzündlichen Rheuma.
Das war so stark, dass er dienstunfähig die Marine verlassen musste. Die Schulmedizin konnte ihm nicht mehr helfen. Auf Empfehlung eines Marinekameraden kam er dann 1919 an einen Arzt in Freiburg, Gustav Riedlin, der ihm das Fasten nahebrachte. Nach drei Wochen war er geheilt, und nach dieser tief greifenden persönlichen Erfahrung beschloss er, sein Leben der Erforschung dieser Methode zu widmen.
Bei Ärzten war das Fasten sehr umstritten.
Bei Schulmedizinern gab es bis in die 80er Jahre hinein immer wieder Kontroversen, ich erinnere an den Spiegel Titel „ gefährliches Fasten“. Noch lange nachdem in der Klinik hier in Überlingen der Betrieb aufgenommen wurde, wurde die Einrichtung belächelt. Das hat sich aber längst geändert. Inzwischen kommen Chefärzte und Medizinprofessoren zu uns, in Mitteleuropa ist das Fasten nicht mehr umstritten.
Jedes Jahr finden rund 3000 Gäste aus aller Welt den Weg zu Ihnen, um für teures Geld weniger oder nichts auf den Teller zu bekommen. Warum tun sie sich das an?
Klinikchef Raimund Wilhelmi Foto: Archiv Buchinger-Wilhelmi
Unser Leben ist ja nicht nur eine ständige Verführungssituation zu essen und zu trinken, sondern auch von einer unglaublichen Hektik geprägt. Bei vielen Menschen gibt es eine tiefe Sehnsucht danach, zur Ruhe zu kommen. Das Fasten selbst löst im Gehirn nachweislich Stoffwechselprozesse aus, die glücklich machen und eine antidepressive Wirkung haben. Insgesamt hat Fasten eine gesundheitsfördernde, vor allen Dingen antientzündliche Wirkung.
Hungern als Genesungstherapie?
Wenn der Darm völlig entleert ist, verspüren sie keinen Hunger. Jeder der schon einmal gefastet hat, weiß, dass es sich wunderbar von den eigenen Reserven leben lässt. All die Spätzle und Schnitzel sind als Fettpolster gut angelegt. Wenn Sie so wollen, essen Sie diese ein zweites Mal . . .
. . . um mit Kräutertee und Gemüsebouillon rank und schlank zu werden?
Natürlich schleppen viele Menschen heutzutage zu viel Gewicht mit sich herum. Aber den Menschen , die hierher kommen, geht es nicht nur um das Abnehmen.
Sondern?
Im Grunde wollen unsere Gäste zu sich selbst kommen und oft auch wegweisende Entscheidungen für sich treffen: Bin ich noch in meiner Mitte? Lebe ich oder werde ich gelebt? Ist meine Partnerschaft intakt? Soll ich bis an meine Lebensende in diesem Büro sitzen? Da hilft das Fasten unter ärztlicher Anleitung, weil es die Menschen im Kopf frei macht, sie sensibel macht für neue Gedanken, sie öffnet für die Welt und ihr Bewusstsein erweitert. Ganz abgesehen davon, dass der Körper sich reinigt und regeneriert. Aber uns ist wichtig, dass wir das Fasten in ein ganzheitliches Programm einfügen. Die medizinischen Angebote werden ergänzt und angereichert mit Sport, Bewegung und Entspannung und gerne auch mal mit Massagen. Sogar Malen, Singen, Yoga und Meditation gehören dazu, aber bei Bedarf auch psychotherapeutische Angebote und personal coaching.
Aber ohne modische Einflüsse geht es offenbar nicht: Yoga, Ayurveda und fernöstliche Medizin hat Otto Buchinger nicht gekannt.
Gegen die Wünsche der Kunden kommen Sie nicht an. Ich habe mich beispielsweise lange gegen einen Fitnessraum gewehrt. Otto Buchinger war ein Bewegungsfanatiker – aber bitte in der Natur und an der frischen Luft. Jetzt haben wir doch ein Studio eingerichtet und die Gäste radeln und joggen hinter der Glasscheibe.
Wo ziehen Sie dann Grenzen?
Wir versuchen, Modeerscheinungen nicht mitzumachen. Vegetarische Ernährung, 100 Prozent bio ist unser Kernangebot falls Sie nicht fasten wollen oder können. Vegane Ernährung dagegen nur auf speziellen Wunsch – wir empfehlen sie auch nicht, auf Dauer gibt es sicher Mangelerscheinungen.
Erlegen Sie Ihren Gästen denn auch ein Handyverbot auf, wenn sie schon kürzer treten und entschleunigen sollen?
Absolut, aber ehrlich: Das Verbot müssen wir schwer durchkämpfen. Das digitale Fasten ist für manche mit am Schwersten.