In der Corona-Krise zählte der Rems-Murr-Landrat Richard Sigel wiederholt zu den Ideengebern im Südwesten. Doch bei der Impfquote hinkt der Kreis immer noch hinterher.

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

Waiblingen - Als Krisenmanager ist Richard Sigel eigentlich nicht beim Rems-Murr-Kreis beschäftigt. Doch seit seinem Amtsantritt als Landrat geben sich – von der Flüchtlingskrise bis zur Corona-Pandemie – die Problemlagen die Klinke in die Hand. Im Interview erzählt er, weshalb er sich für eine Impfpflicht ausspricht – und was Corona für ihn persönlich bedeutet.

 

Herr Sigel, Sie sind 2015 als Landrat gestartet – und befanden sich dauerhaft im Krisen-Modus. Würden Sie den Job aus heutiger Sicht noch mal machen?

Als plötzlich 700 Flüchtlinge quasi ohne Bett vor der Tür des Landratsamts standen, war das 2015 sicherlich ein denkwürdiger Start. Aber ich habe schon damals versucht, möglichst praktikable und nah an den Menschen orientierte Lösungen zu finden. Und das ist meines Erachtens ganz gut gelungen – auch wenn ich seinerzeit nicht erwartet hätte, dass bei dem Thema so viel zu tun ist. Dennoch: Ja, ich würde den Job noch mal machen. Das Amt als Landrat war für mich aber nie „ein Job“ und auch nicht der klassische Karrieresprung, sondern eine Bewerbung aus der Überzeugung heraus, dass ich etwas mit und für die Menschen tun möchte.

Sie sind nicht nur Landrat, sondern auch ein Familienvater mit zwei Kindern. Wie haben Sie Corona bisher privat erlebt?

Wir wussten als Familie, dass sich ein Amt wie das des Landrats nicht ohne die Rückendeckung der Familie bewältigen lässt. Das gilt auch für die Ausnahmesituation in der Pandemie. Aber es hilft bei vielen Dingen ja auch, wenn man Schwierigkeiten selbst erlebt, statt nur von ihnen zu hören – nehmen wir etwa die für alle Eltern sehr anstrengende Phase, wenn parallel zum Homeoffice auch Kinderbetreuung noch funktionieren soll. Die Erfahrung habe ich selbst gemacht, ganz persönlich und das hat unser Krisenmanagement im Rems-Murr-Kreis auch geprägt. Wir haben sehr früh gesagt, dass wir das Augenmerk auf die Kinder und das Betreuungsthema lenken müssen. Auch deshalb haben wir schon im Herbst 2020 als erster Landkreis ein kommunales Testzentrum eingerichtet und mit Schnelltests für Schulen begonnen. Mir war wichtig, dass Verdachtsfälle schnell geklärt werden können, um den Schulen und Familien mehr Sicherheit zu geben.

Das sagt der Familienvater – wie fällt die Corona-Bilanz des Landrats aus?

Das ist eine schwierige Frage. Mit Blick auf die Infektionszahlen stehen wir aktuell wieder da, wo wir vor fast zwei Jahren gestanden sind. Aber nun sind im Rems-Murr-Kreis gute Strukturen etabliert. Deshalb gehe ich mit einem guten Gefühl und Optimismus ins neue Jahr – auch wenn die Omikron-Variante wie ein Damoklesschwert über uns hängt.

Die Zahlen sind weitaus drastischer als zu Beginn der Pandemie. Was macht Sie so zuversichtlich, dass der Kreis halbwegs unbeschadet aus der Krise kommt?

Weil wir aus der Krise gelernt und mittlerweile eine Infrastruktur geschaffen haben, die es vorher einfach noch nicht gab. Wir stimmen uns zudem kontinuierlich mit den Kommunen und der Ärzteschaft ab, auch um den Menschen mehr als 10 000 Impftermine die Woche anbieten zu können. Über unser zentrales Online-Buchungsportal stehen ausreichend Impftermine überall im Landkreis für Erwachsene und auch für Kinder ab fünf Jahren bereit, gleiches gilt für Schnelltests. Wir haben für die schnelle Auswertung von PCR-Tests einen eigenen Labormediziner in unseren Kliniken eingestellt. Und nicht zuletzt haben wir am Rems-Murr-Klinikum in Winnenden eine Infektionsstation mit 72 Betten angebaut.

Dennoch hinkt der Rems-Murr-Kreis der landesweiten Impfquote weiter hinterher – nicht zuletzt, weil das Stuttgarter Sozialministerium dem Kreis trotz vergleichsweise hoher Bevölkerungszahlen ein zweites Impfzentrum verwehrt hat.

Auch wenn die Impfkampagne gut läuft, stehen wir bei den Erstimpfungen tatsächlich noch immer bei knapp 66 Prozent, bei den Booster-Impfungen bei 27,8 Prozent. Ich kann ich nur aufrufen, dass jeder in seinem persönlichen Umfeld für eine Impfung wirbt.

Heißt auch, dass Sie dem Sozialminister Manne Lucha nicht unbedingt schöne Weihnachten gewünscht haben?

Sicher war das Sozialministerium in der Anfangsphase der Pandemie sehr gefordert und an manchen Stellen auch überfordert. Aber das ist kein Grund, nicht schöne Weihnachten zu wünschen oder mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Ich arbeite in vielen Bereichen sehr gut mit Sozialminister Lucha zusammen – nehmen wir nur die Verkürzung der Frist für Booster-Impfungen von fünf auf drei Monate oder die Impfungen für Kinder, die wir gemeinsam mit dem Land sehr schnell anbieten konnten. Auch in Stuttgart ist glaube ich die Einsicht gewachsen, dass der Rems-Murr-Kreis nicht nur meckert, sondern sich mit konstruktiven Vorschlägen einbringt.

Trotzdem wurde etwa die auf eigene Initiative entwickelte Software für Testzentren (Cosan) samt der Cosima-App trotz positiver Rückmeldungen nicht flächendeckend aufgegriffen. Hat sich der Kreis da unter Wert verkauft?

Wir haben uns nicht unter Wert verkauft - höchstens in einem Punkt: Wir stellen die App allen Test- und Impfzentren im Landkreis kostenlos zur Verfügung. Statt „unter Wert verkauft“ würde ich sagen: Man hat vielleicht immer noch nicht überall den Mehrwert unserer Lösungen erkannt. Aber im Ernst: Für uns im Rems-Murr-Kreis ist das ein unheimlich wertvolles Instrument. Wir wickeln jede Woche Zehntausende Impf- und Testtermine über die Buchungsplattform ab und erreichen mit unserer Dienstleistung so viele Menschen wie sonst selten als Landkreisverwaltung. Wir stecken deshalb viel Herzblut und Energie rein. Vielleicht ist das aber auch mein skandinavischer Blickwinkel, über das Thema Digitalisierung nicht nur zu reden, sondern das aktiv anzupacken.

Der Erfolg der App wirft auch die Frage auf, warum es eine auf Kreisebene selbst gestrickte Lösung braucht, um die Terminvergabe vernünftig zu regeln. Sind das nicht Dinge, um die sich erst mal das Land kümmern müsste?

Stimmt, das ist eigentlich nicht unsere Aufgabe, so eine Lösung umzusetzen. Aber es ist meine Aufgabe, den Menschen zu helfen. Und natürlich ist da auch ein bisschen Stolz dabei, dass wir da ganz vorn mit dabei sind. Bereits im Mai haben die kommunalen Spitzenverbände den Landkreisen, Städten und Gemeinden in Baden-Württemberg unsere Lösung als „Best Practice“ empfohlen. Wir hätten die App im Sommer im großen Stil ausrollen können. Aber da war leider die Politik eine andere, man wollte öffnen und die Einschränkungen wieder lockern. Die App-Lösung und funktionierende Impf- und Teststrukturen waren kurzzeitig nicht mehr so wichtig im Alltag.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Der Landkreis macht jetzt Tempo beim Impfen

Ergebnis war, dass die Infektionszahlen im Herbst gerade im Südwesten durch die Decke geschossen sind...

Im Rückblick war es ein Fehler, die Einschränkungen im Sommer abzubauen und geimpfte und ungeimpfte Menschen gleich zu behandeln. Ich erinnere nur an die Baumarkt-Werbung, in der es hieß, dass man für den Einkauf überhaupt keinen Test braucht. Generell sollte die Politik den Menschen nicht zu früh zu viel versprechen – vor allem, wenn das hinterher nicht haltbar ist.

Sprechen Sie sich als Landrat für eine rigorose Impflicht aus?

Ich war schon immer für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen – und halte es für falsch, dass wir für diese Debatte so lange brauchen. Um es ganz klar zu sagen: Es kann einfach nicht sein, dass jemand im Pflegebereich oder im Krankenhaus arbeitet und nicht gegen Corona geimpft ist. Aber da schließt sich wieder der Kreis zur Familie: Wer erleben muss, dass ein vierjähriges Kind die Hälfte seines Lebens auf den Nikolaus verzichten musste und kein richtiges Weihnachten feiern durfte, der erkennt auch, dass die individuelle Freiheit ihre Grenzen hat. Schließlich ist die Impfung unser bestes Mittel gegen die Pandemie und daher bin ich ganz klar für eine allgemeine Impfpflicht.

So ein Satz wird Ihnen böse Briefe von Impfgegnern bescheren. Wie oft sind Sie als Landrat Anfeindungen ausgesetzt?

Ich bekomme jeden Tag mindestens eine Mail oder einen Brief. Aber ich kann sehr gut die Person Richard Sigel von der Rolle des Landrats trennen – und deshalb damit umgehen. Aber: Ich bin wirklich dankbar, dass die Diskussion über nötige Corona-Maßnahmen im Kreistag immer sehr geordnet und sachlich ablief und zwar – das sage ich ausdrücklich – über alle Fraktionen hinweg.

Noch stecken wir mitten in der Krise: Wie lange werden uns die hohen Infektionszahlen noch begleiten?

Das ist keine ganz einfache Prognose. Wir werden uns noch eine ganze Zeit mit Corona beschäftigen müssen. Aber im Idealfall ist die Omikron-Welle die letzte, die wir erleben müssen – vorausgesetzt, wir schaffen es, die Impfquote zu steigern. Ich bin und bleibe Optimist, gerade jetzt.

Corona bestimmt seit Monaten unser Leben. Nennen Sie uns doch mal die Top 3 der Themen, die wegen der Viruspandemie liegen geblieben sind.

Da muss ich Sie enttäuschen, richtig liegen geblieben ist nichts. Trotz Corona haben wir etwa das Abfallwirtschaftskonzept auf den Weg gebracht und den neuen Nahverkehrsplan entwickelt. Und auch beim ganz großen Thema Klimaschutz ist nicht nur mit der Wasserstoffstrategie etwas passiert. Wir haben schon vor drei Jahren und nicht erst jetzt auf den Weg gebracht, dass wir als Landkreisverwaltung bis 2030 klimaneutral sein wollen. Nein, wir arbeiten Dinge strukturiert ab, wir dürfen wegen Corona nicht in den Stillstand geraten. Und, das ist mir wichtig: Ich mache diesen Job nicht, um nur zu verwalten. Meine Aufgabe ist es, zu gestalten.