Frau Aras, der Landtag ist bundesweit eines der Schlusslichter, wenn es um den Anteil von weiblichen Abgeordneten geht. Wie kommt das?
Dafür gibt es aus meiner Sicht mehrere Gründe: Es liegt zum einen an den Parteien. In vielen Wahlkreisen gibt es Platzhirsche, die Veränderung verhindern. Zum anderen ist eine Ursache das Wahlrecht mit nur einer, statt zwei Stimmen wie bei der Bundestagswahl, das uns von anderen Bundesländern unterscheidet. Ich denke, es ist höchste Zeit für eine Reform. Doch auch die immer noch mangelhafte Vereinbarkeit von Familie und Beruf hindert Frauen an politischer Arbeit. Ich erinnere mich gut, wie gnadenlos hart es war, ein kleines Kind zu haben, als Unternehmerin zu arbeiten und mich politisch zu engagieren. Dabei ist es für die Gesellschaft enorm wichtig, dass Frauen das auch tun.
Warum?
Es fällt heute noch auf, dass bei bestimmten Themen und in gewissen Positionen nach wie vor nur Männer vertreten sind, und ich finde, das bildet unsere Gesellschaft nicht ab, und das macht jüngeren Frauen auch keinen Mut, ihren Hut in den Ring zu werfen. Zumal es genügend qualifizierte Frauen gibt.
Würden mehr Frauen im Landtag die politische Arbeit verändern?
Ganz klar: ja. Frauen machen zwar nicht zwingend die bessere Politik, entscheidend sind aber die unterschiedlichen Perspektiven. Das hat Auswirkungen auf Debatten und politische Entscheidungen. Ein Beispiel: Ich bin 1999 in den Gemeinderat von Stuttgart gewählt worden, da war die Kleinkindbetreuung noch überhaupt kein Thema dieses Gremiums. Nur mit viel Glück hatte man damals einen Kleinkindplatz. Einer meiner ersten Anträge war, die Betreuungsplätze zu erhöhen. Ich wurde für verrückt gehalten. Die Perspektiven bringt man aus seinem eigenen Leben in die Politik hinein.
Für Unternehmen ist Vielfalt längst ein wichtiges Schlagwort – warum für manche politische Gremien und Parteien immer noch nicht?
Große Konzerne haben nicht deshalb längst alle Diversity-Abteilungen, weil sie es besonders lustig finden, wenn es bunt ist. Sondern weil es Belege gibt, dass Unternehmen mit Frauen in der Führungsebene 15 Prozent mehr Gewinn erzielen. Wenn die ethnische Vielfalt dazu kommt, dann erzielen sie sogar 35 Prozent mehr Gewinn. Den Mehrwert für die Gesellschaft kann ich nicht materiell messen. Doch für den Zusammenhalt ist ein diverses Parlament unglaublich wichtig. Wenn man sich repräsentiert fühlt, identifiziert man sich viel eher mit den Institutionen und mit den Werten eines Landes.
Sie bekleiden als Landtagspräsidentin ein begehrtes Amt – und wirken oft integrierend. Doch um so weit zu kommen, braucht man auch spitze Ellbogen.
Ich musste natürlich dafür kämpfen. Es war nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen. Ich bin das aber gewohnt, weil ich als drittes von fünf Kindern aufgewachsen bin. So habe ich gelernt, hinzustehen und zu sagen, was ich will, weil ich es sonst nicht bekommen hätte. Je weiter ich die Karriereleiter hoch bin, desto mehr habe ich gemerkt, die Männer sind unglaublich gut vernetzt, die trauen sich in der Regel auch viel früher viel mehr zu.
Sind die weiblichen Abgeordneten im Landtag miteinander vernetzt?
Nicht formell. Ich kenne das aber von der kommunalen Ebene bei den Bürgermeisterinnen im Land. Wir haben 1101 Gemeinden, nur 10 Prozent werden von Frauen geführt. Die treffen sich regelmäßig, unterstützen einander. Was ich auch gut finde, sind Mentorinnenprogramme. Ich war Schirmherrin eines solchen Programms der grünen Landespartei. Erfahrene kamen mit Jüngeren zusammen, die sich noch nicht ganz trauten, in die Politik zu gehen. Das lief ein Jahr, danach sind etliche auf kommunalen Listen angetreten, und manche von ihnen sind heute Fraktionsvorsitzende in Gemeinderäten. Das zeigt, wie sinnvoll solche Programme auch in der Politik sind.
Eine relativ neue Hürde für Frauen, sich in der Politik zu engagieren, stellt der Hass dar, der vielen Politikerinnen heute im Internet begegnet.
Ja, die Aggressivität im Internet hat massiv zugenommen, insbesondere gegenüber Frauen. Für mich war die Zäsur der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, weil man gemerkt hat, dass die Radikalisierung im Netz stattgefunden hatte. Deshalb habe ich mich letztes Jahr dazu entschlossen, in meinem Fall offensiv dagegen vorzugehen und Strafanträge zu stellen.
Was haben Sie erlebt?
Bei mir kamen die Hassbotschaften in Wellen. Die Gewaltandrohungen haben zugenommen nach Polizeieinsätzen im Parlament, als Abgeordnete sich geweigert haben, meinen Anweisungen zu folgen und den Sitzungssaal zu verlassen. Das wurde als Video ins Netz gestellt, und der Hass hat danach eine ganz andere Dimension angenommen.
Inwiefern?
Mir und meiner Familie wurde massiv Gewalt angedroht, man hat mich sexistisch und erniedrigend als Frau angegriffen. Viele Politikerinnen erleben diese Form der verbalen Gewalt. Das sind widerliche Kommentare, und ich möchte diesen Menschen ein klares Signal geben und sagen: Es gibt eine Grenze. Ich habe dann auch eine sehr gute Bilanz erzielt. Wir haben in zwei Dritteln der Fälle Recht bekommen, und Facebook und Google mussten die IP-Adressen dieser Verfasser herausgeben.
Wie wird man persönlich mit solchen Angriffen fertig?
Es ist nicht schön, diese schlimmen Sachen über sich und seine Familie zu lesen. Doch der Hass ermutigt mich eher, mich noch stärker für meine Werte einzusetzen. Ich lasse mich zu keinem Zeitpunkt einschüchtern oder verängstigen. Und ich denke, wenn ich in diesem Amt nicht klar Position beziehe, wie sollte ich dann von anderen Menschen Zivilcourage erwarten? Ich wünsche mir, dass wir alle wieder lauter für unsere Werte einstehen. Eine Minderheit tritt schrill auf und bekommt Aufmerksamkeit. Ich werde klare Kante zeigen, wenn es um Antisemitismus, um Rassismus, um Ausgrenzung geht.
Wo sehen Sie Ursachen für die Zunahme von Hass gegenüber Politikerinnen?
Die Leute, die mir Hassmails schicken, die würden mir das – da bin ich mir ganz sicher – niemals ins Gesicht sagen. Die Anonymität im Netz trägt also dazu bei. Und natürlich gibt es politische Kräfte in diesem Land, auch wenn sie glücklicherweise in der Minderheit sind, die Frauen in einer anderen Rolle sehen wollen, die befeuern so etwas zusätzlich.
Je nach Ausgang der Wahl – stünden Sie erneut als Präsidentin zur Verfügung?
Es ist eines der schönsten Ämter in diesem Land, da man an ganz grundsätzlichen Themen arbeiten kann: Was hält diese Gesellschaft zusammen, was ist unser Wertefundament, unser Kompass, was ist Heimat? Ich mache das mit Leidenschaft. Wenn die Wählerschaft das so entscheidet und meine Fraktion auch, würde ich es gerne wieder machen. Wir haben noch viele Themen vor uns – wenn wir zum Beispiel in die USA geschaut haben im vergangenen Jahr, sehen wir, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen sie wieder stärker fördern.