Von Gaddafi bis Stuttgart 21: Lutz Tillmanns vom Deutschen Presserats spricht über journalistische Ethik in Zeiten des Internets und der sozialen Netzwerke

Stuttgart - Die Stuttgarter Zeitung und das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 hat den Deutschen Presserat in den vergangenen zwei Jahren 19-mal beschäftigt, wie Lutz Tillmanns berichtet. Anlass für eine Rüge gaben die Beschwerden aus Sicht der Selbstkontrollinstanz der Presse jedoch nicht.

 

Herr Tillmanns, vor drei Jahren hat der Presserat seine Arbeit auch auf die Online-Auftritte von Redaktionen ausgedehnt. Die Netzcommunity überzieht immer wieder einzelne Personen mit massenhaften Beleidigungen und Bedrohungen. Wie hat das Internet Ihre Arbeit verändert?
Bei Blogs und Foren setzen wir nur an, wenn die Redaktion steuernd eingreift. Ansonsten betrachten wir die Beiträge nicht als journalistisches Produkt. Werden sie von einer Zeitung moderiert, unterziehen wir sie auch dem Pressekodex, das heißt, die Persönlichkeitsrechte müssen eingehalten, die Sorgfaltsregeln beachtet werden, man darf niemanden diskriminieren. Dafür muss die Redaktion Sorge tragen.

Das heißt, die Zeitung muss im schlimmsten Fall etwas praktizieren, was die Internetgemeinde sofort als Zensur anprangert: Beiträge entfernen.
Genau. Und Sie haben recht, es wird sehr schnell von Zensur gesprochen. Das ist natürlich eine gefühlte Zensur und keine Zensur im rechtlichen Sinne.

Färbt der oft sehr rüde Umgangston im Internet auf den Printjournalismus ab?
Wir haben zwar deutlich mehr Beschwerden, seit wir uns für journalistische Internetinhalte zuständig erklärt haben. Aber ich kann nicht behaupten, dass sich der Printjournalismus durch das Internet verändert hätte.

Ist der Boulevardjournalismus denn nicht extremer geworden, schlichtweg um mit dem Internet mithalten zu können? Das Bild etwa vom getöteten libyschen Diktator Gaddafi war sofort im Netz – die „Bild“-Zeitung druckte es vergrößert auf der Titelseite ab. Der Presserat hat darin einen Verstoß gegen den Jugendschutz erkannt.
Sie haben recht, mit dem Argument der Konkurrenzfähigkeit wird bei den Boulevardblättern eher hantiert als etwa bei den Abonnementszeitungen. Trotzdem fühlen sich auch die Boulevardzeitungen der journalistischen Ethik verpflichtet, und wenn diese verletzt wird, müssen sie mit der Kritik des Presserats rechnen. Unsere Qualitätsansprüche geben wir trotz des Einflusses des Internets nicht auf.

Ist der Einfluss nicht vielleicht doch stärker als Sie zugeben wollen? Beispielsweise bei der Suizidberichterstattung, bei der in besonderem Maße der Schutz der Persönlichkeitsrechte gilt? Warum noch diese Zurückhaltung, wenn auf Online-Plattformen doch alle Informationen zur Verfügung stehen, könnte man argumentieren?
Allein die Tatsache, dass etwas im Internet präsent ist, ist kein Freibrief für die Presse, gleichzuziehen.

Warum nicht?
Weil wir dann den Anspruch aufgäben, journalistisch zu arbeiten. Vor dreißig Jahren hatten die Journalisten ein Veröffentlichungsmonopol, heute gibt es dank des Internets viele Akteure auf diesem Feld. Die klassische Deutungshoheit hat der Journalismus damit zwar eingebüßt. Aber dessen Kernaufgabe bleibt es, nicht nur zu informieren, sondern auch zu recherchieren, sortieren, zu gewichten, zu kommentieren, und zwar nach professionellen Standards.