Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Sie müssen quasi von Amts wegen der Pharmalobby trotzen. Ein harter Job?
Als ich vor vier Jahren anfing, war in der Presse vom heißen Stuhl und vom Schleudersitz die Rede. Diese Form von Druck auf mich persönlich erlebe ich nicht. In meiner Funktion als Leiter des Instituts muss ich natürlich Druck aushalten. Allerdings hat sich hier die Lage entspannt. Früher wollten die Kritiker das ganze Iqwig weghaben. Da wurde auch mit harten Bandagen gekämpft, zum Teil ging das weit unter die Gürtellinie. Jetzt wird um unsere Bewertungen gestritten, ist das Iqwig als Institution anerkannt.
Warum sind die Kassen manchmal auch im Widerstand? Die wollen doch Geld sparen.
Im Leistungskatalog der Kassen finden sich aber auch Verfahren, die wir skeptisch beurteilen würden, etwa die Früherkennung von Prostatakrebs durch eine Abtastuntersuchung. Das bringt vermutlich gar nichts, wird aber trotzdem bezahlt. Die Kassen sind eben auch Unternehmen, die Kunden binden und gewinnen müssen. Da steht die Frage nach dem Nutzen zuweilen hinter Marketinggesichtspunkten zurück. Wir haben zum Beispiel die Insulin-Analoga bewertet und festgestellt, dass die nicht besser sind als bisherige Mittel, aber teurer und mit zusätzlichen Risiken behaftet (weitere Informationen hier und hier). Dennoch haben Kassen Mitglieder damit geworben, dass sie die Mittel bezahlen. Solche Beispiele gibt es viele. Vor kurzem erst haben wir für ein Antiepileptikum festgestellt, dass es keinen zusätzlichen Nutzen hat. Der Hersteller nahm es dann vom deutschen Markt. Einige Kassen bezahlen es nun als Importarznei.
Riskieren die Kassen wirklich wegen des Marketings die Gesundheit ihrer Kunden?
Nein, sie bezahlen nichts, was eindeutig schadet. Wenn sie aber ein Medikament mit unklarem Zusatznutzen erstatten, dann fördern sie ein Mittel, dessen Nebenwirkungen womöglich höher sind als bei einer bewährten Arznei, mit der man mehr Erfahrungen hat.
Sie sind auch beim Mammografie-Screening skeptisch, warum?
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Früherkennung die Lebenserwartung erhöht. Da geht es statistisch höchstens um Minuten. Untersucht wird in der Regel ja nur, ob das Risiko sinkt, an dem Krebs zu sterben, nach dem jeweils geschaut wird. Die anderen Todesarten bleiben dabei außen vor. Gleichwohl wird es so sein, dass man bei einzelnen Frauen einen Tumor entdeckt, erfolgreich behandelt und so ihr Leben verlängert. Genauso wird es vorkommen, dass Frauen an Übertherapie sterben, die ohne Screening nie vom Krebs erfahren hätten.
Welche Krebsfrüherkennung ist dann noch rückhaltlos zu empfehlen?
Hier gibt es keine eindeutigen Empfehlungen, aber am ehesten wird beim Darmkrebs- und beim Gebärmutterhalskrebs die Früherkennung als sinnvoll erachtet, weil man dabei auch Krebsvorstufen entdeckt und effektiv behandeln kann.
Warum wird dann so massiv für Krebsfrüherkennung geworben?
Das hat auch wirtschaftliche Gründe. Vor allem aber sind Ärzte und Patienten vom Wert der Früherkennung überzeugt, nach dem Motto: Einmal im Jahr muss ich mich checken lassen – wie beim Auto.
Sind Medizinchecks ab einem bestimmten Alter denn nötig?
Ab 35 Jahren wird der zweijährliche Check von den Kassen bezahlt. Es gibt aber keine Belege dafür, dass das für die Gesundheit etwas bringt. Das hat auch die Analyse einer dänischen Forschergruppe aus dem Jahr 2012 ergeben.
Wissen das die Ärzte nicht?
Ich schätze, dass 80 Prozent der Ärzte die Studie nicht kennen. Zudem gibt es sehr viele Möglichkeiten, eine solche Maßnahme im Einzelfall zu rechtfertigen, selbst wenn sie im Mittel nicht viel bringt.
Brauchen die Ärzte dann mehr Fortbildung?
Die Menge macht es natürlich nicht, sondern die Qualität. Die Ärzte bräuchten vor allem ein stärkeres Bewusstsein dafür, was man mit solchen Untersuchungen erreichen, aber auch anrichten kann.
Ihr Institut hat nur drei Monate Zeit, neue Arzneien zu bewerten. Ist das nicht zu kurz?
Das ist ambitioniert, funktioniert aber, weil die Bewertungen auf der Basis von Dossiers erfolgen, die die Pharmafirmen einreichen. Man kann natürlich fragen, ob zu diesem frühen Zeitpunkt der Zusatznutzen eines Medikaments schon abschließend zu bewerten ist. Ich sage: Nein. Deswegen plädiere ich dafür, dass weitere Studien folgen müssen. Besonders in den Fällen, in denen unser Urteil unsicher ist, sollten wir die Dinge zum Beispiel nach drei Jahren wieder prüfen können. Hier sollten die gesetzlichen Regelungen angepasst werden.
Reformen verlangen Sie auch bei den Medizinprodukten. Müsste deren Zulassung neu geregelt werden?
Seit dem Brustimplantate-Skandal interessiert sich die Öffentlichkeit mehr für dieses Thema. Die Vorschriften sind auch etwas verschärft worden. Das reicht aber nicht. Auch der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen fordert eine systematische Bewertung von neuen, vor allem risikoreichen Medizinprodukten. Deshalb bin ich optimistisch, dass wir zu besseren Regelungen kommen.
Was muss sich ändern?
Es muss besser als bisher dafür gesorgt werden, dass keine Medizinprodukte auf den Markt kommen, die nichts nützen oder schaden. Momentan wird nur – und das auch noch privatwirtschaftlich organisiert – geprüft, ob die Erzeugnisse technisch in Ordnung sind und zum Beispiel nicht rosten. Ob der Patient profitiert, ist meist unklar. Man kann fast wöchentlich von Fällen lesen, wo Patienten zu Schaden kommen.
Verhindern die Lobbyisten ein strengeres Zulassungsverfahren?
Die Industrie betreibt einen – im Ergebnis – sehr erfolgreichen Lobbyismus. Dieser führt unter anderem dazu, dass die Politik nicht nur auf das Gesundheitssystem guckt, sondern auch auf die Leistungsfähigkeit des Industriestandorts. In der Medizintechnik ist Deutschland führend. In letzter Konsequenz muss man sich entscheiden, ob man sich an der Wirtschaft oder an den Patienten orientiert. Besonders auf der europäischen Ebene scheint der Schwerpunkt hier eher bei der Wirtschaft zu liegen. So kann es nicht bleiben.