Lassen Sie uns zurück auf die Oper und ihre alten, mythischen Stoffe kommen. Was fasziniert Sie so daran?
Es kommt darin immer das zur Sprache, was den Menschen im Kern berührt und bewegt. Wenn ich Homer lese, was ich in meinem Griechenland-Urlaub immer mache, habe ich das Gefühl, dass zwar die Technik im Lauf der Jahrtausende fortgeschritten ist, nicht aber der Mensch, der sie entwickelt hat. Diesen Menschen treiben noch immer die gleichen Gefühle und Konflikte um. Nehmen Sie, ganz aktuell, das Thema Krieg: Wie kommt es dazu, was richtet er mit Menschen und Gesellschaften an, wie gelingt Versöhnung und Frieden? Kant hat einst vier Menschheitstfragen formuliert: „Was darf ich hoffen? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch?“ – genau darum kümmert sich die Kunst, indem sie diese Fragen immer wieder zeitgenössisch zuspitzt. Eingeschnitzt in ein Kant-Holz, als Geschenk des Kant-Gymnasiums in Weil am Rhein, liegen diese philosophischen Sätze im Übrigen immer auf meinem Schreibtisch . . .
Homer, Kant – und was lesen Sie jetzt gerade?
„Die Welt des Parmenides“ von Karl Popper. Der Philosoph setzt sich darin mit den Vorsokratikern auseinander und deutet sie so, dass sie mit seinem eigenen Lebensthema etwas zu tun haben, mit „Der offenen Gesellschaft und ihren Feinden“, wie sein Hauptwerk heißt. Die Lektüre des Buchs ist enorm schwer, aber ein großes intellektuelles Vergnügen.
Verändert diese Auseinandersetzung mit Philosophie und Kunst auch Ihre konkrete Politik?
Selbstverständlich. Sie gibt mir einen inneren Kompass, an dem ich mich ausrichten kann. Jenseits von Hannah Arendt, deren politische Philosophie mir immer Wegmarken setzt, wurzelt mein Denken tief in der griechischen Polis. Deren Grundsatz lautet: Frei ist, wer auf der Agora frei reden kann und von niemandem abhängig ist, der also weder Herrscher noch Beherrschter ist. Denn das ist ja das Interessante: Auch der Herrscher ist nicht frei, was ich schließlich seit einigen Jahren verschärft an meiner eigenen Person erfahre. Als Ministerpräsident unterliege ich zahllosen Zwängen und bin eingehegt durch das Amt, durch Gesetze, durch Abläufe und Vereinbarungen und tausend andere Regeln. Ich übe einen hochgradig dienenden Beruf aus, der mit Herrschaft nicht viel zu tun hat.