Der amerikanische Wissenschaftler Noam Chomsky kritisiert die politischen Verhältnisse in seinem Heimatland scharf. Weder den Demokraten noch den Republikanern traut er zu, die Krise zu meistern

Stuttgart – Noam Chomsky, einer der bedeutendsten Intellektuellen der politischen Linken Nordamerikas, ist schon seit dem Vietnamkrieg als scharfer Kritiker der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik weltweit bekannt. Auch an Barack Obama, der sich im November der Wiederwahl als US-Präsident stellt, lässt er kein gutes Haar.
Herr Chomsky, Sie mischen sich seit mehr als fünfzig Jahren immer wieder in politische Diskussionen ein und gelten als einer der prominentesten Kritiker der US-Politik. Haben Sie nie darüber nachgedacht, selbst in die Politik zu gehen?
Nein, ich wäre furchtbar schlecht darin. (lacht) Um Ihnen nur ein kleines Beispiel zu geben: An meiner Fakultät gibt es einen demokratisch gewählten Institutsleiter, das Amt rotiert alle paar Jahre, so dass jedes Fakultätsmitglied irgendwann mal dran ist. Die einzige Person, die das niemals machen durfte, bin ich – weil ich alles so schnell kaputt mache. Zum anderen habe ich aber auch keine Lust, in die Politik zu gehen.

Warum?
Weil ich glaube, dass ich außerhalb der Politik mehr erreichen kann.

Hat diese Einschätzung auch etwas damit zu tun, wie Sie über das politische System der USA denken?
Es gibt bei uns in den USA natürlich Politiker, die einen guten Job machen. Aber normalerweise reagiert das System nur auf Druck von unten, wie man an den Wirtschafts- und Sozialreformen des New Deal in den 1930ern sehen kann. Präsident Roosevelt hatte damals Sympathien für die Forderungen von der Straße. Aber es war im Wesentlichen der Druck der sozialen Bewegungen, welcher zu den sinnvollen Antworten auf die Krise der Großen Depression führte. Auch Präsident Lyndon B. Johnson hat in den 1960ern auf die massenhafte Mobilisierung von unten reagiert, was dazu führte, dass die Vereinigten Staaten eine Art sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat aufbauten, im Vergleich mit Europa zwar ziemlich limitiert, aber immerhin.

Die Protestbewegung der Stunde zeltet auf öffentlichen Plätzen und nennt sich Occupy. Sie selbst haben die Bewegung als die erste bedeutende Antwort der Bevölkerung auf dreißig Jahre Klassenkampf genannt. Was hat Occupy bislang erreicht?
In der kurzen Zeit seit dem September 2011 schon sehr viel. Sie hat die öffentliche Wahrnehmung und den öffentlichen Diskurs beeinflusst. Die „Ein-Prozent-gegen-99-Prozent“-Metaphorik gehört selbst im Mainstream inzwischen zum Standard. Das ist nicht unbedeutend, weil dadurch die massive politische und wirtschaftliche Ungleichheit in den USA in das Bewusstsein drängt. Es gibt auch konkrete Forderungen, die ich für sehr sinnvoll halte, wie etwa eine Reform der Wahlkampffinanzierung, eine Finanztransaktionssteuer, Hilfen für Hauseigentümer und Mieter oder Umweltschutzgesetze. Es gibt aber einen zweiten, vielleicht sogar wichtigeren Aspekt. Occupy hat es geschafft, eine Gemeinschaft von gegenseitiger Hilfe und Unterstützung aufzubauen. Die Leute auf den Plätzen haben Büchereien aufgebaut, gemeinsame Küchen und anderes. Das ist viel wert, gerade in einer so stark atomisierten Gesellschaft wie den USA, wo sich viele hilflos und alleine fühlen.

In den USA nimmt der Wahlkampf derzeit Fahrt auf. Wie beurteilen Sie die erste Amtszeit von Barack Obama?
Ich hatte nicht viel von ihm erwartet, deswegen wurde ich auch nicht enttäuscht. Als Barack Obama das Amt übernahm, auf dem Gipfel der Finanzkrise, musste er ein Wirtschaftsteam zusammenstellen. Nun, wen hat er ausgewählt? Es gab ein paar Wirtschafts-Nobelpreisträger, aber die wollte er nicht. Stattdessen holte er die Leute, welche die Krise verursacht haben. Ein Artikel in der Wirtschaftspresse besprach damals die Zusammenstellung von Barack Obamas Team. Der Autor kam zu der Schlussfolgerung, dass die Hälfte dieser Leute nicht in den Beraterstab gehört, sondern vor Gericht. Ein Großteil seiner Wahlkampfspenden bekam Präsident Obama 2008 aus dem Finanzsektor, welcher lieber ihn als McCain haben wollte. Obama hat also nur die Leute ausbezahlt, die ihn ins Amt gebracht hatten.

Aber man muss Barack Obama doch zumindest zugutehalten, dass er versucht hat, auch Positives zu bewirken, siehe etwa die Gesundheitsreform.
Das amerikanische Gesundheitssystem ist ein totales Desaster. Würden die USA ein System haben wie andere Industrienationen, dann gäbe es nicht mal mehr ein Haushaltsdefizit. Die Gründe sind offensichtlich. Ein hauptsächlich privates, unreguliertes Gesundheitssystem ist extrem ineffizient und teuer. Die Obama-Reform ist besser als das, was es vorher gab, aber weit vom Optimum entfernt. Sogar die Idee einer öffentlichen Option, also der Möglichkeit, dass sich Millionen Unversicherter für eine staatliche Krankenversicherung entscheiden können, hatte Obama schnell aufgegeben.

Präsident Obama musste nun einmal Zugeständnisse an die republikanische Partei machen.
Viele behaupten, angesichts der politischen Verhältnisse habe er das Beste herausgeholt. Aber das ist nicht so offensichtlich. Der amerikanische Präsident hat viel Macht. Zum Beispiel kann er sich an die Bevölkerung wenden, die in diesem Fall stark für eine staatliche Krankenversicherung war. So hatte es auch Theodor Roosevelt geschafft, die New-Deal-Gesetze einzuführen und sich gegen private Lobbygruppen durchzusetzen.

Die Republikaner haben die Tea-Party-Bewegung. . .
Die Tea-Party ist keine soziale Bewegung, sondern wird massiv vom privaten Kapital unterstützt. Das ist eine Bewegung, die demografisch gesehen dem nicht unähnlich ist, was die Nazis in Deutschland organisiert haben. Kleinbürgertum, relativ wohlhabend, ausschließlich Weiße, die eine nativistische Tradition pflegen und Angst vor Fremden haben, weil sie fürchten, dass die weiße Bevölkerung irgendwann in der Minderheit ist.

Die Tea-Party hat es geschafft, Dutzende ihrer Unterstützer in den Senat und den Kongress zu bringen und war, so gesehen, ziemlich effektiv.
Es ist nicht schwer, erfolgreich zu sein, wenn man so viel Unterstützung von den Konzernen hat. Die Tea-Party ist ja so etwas wie die Stoßtruppe der Unternehmerschaft. Und die Republikaner mobilisieren sie. Sehen Sie, die Republikaner sind schon lange keine traditionelle Partei mehr. Sie agieren im vorauseilenden Gehorsam mit den Reichen und der Unternehmerschaft. Aber so kann man keine Wahlen gewinnen. Also mobilisieren sie andere Teile der Bevölkerung, zu der auch die religiöse Rechte gehört.

Sie haben einmal gesagt, dass man jeden amerikanischen Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg hängen müsste, würde man die Prinzipien der Nürnberger Prozesse anwenden. Gilt das auch für Barack Obama?
Schauen Sie sich die globale Mordkampagne der Obama-Regierung an. Damit missachtet man rechtliche Prinzipien, die bis zur Magna Charta zurückreichen.

Sie meinen die unbemannten Drohnen-Angriffe der USA in Ländern wie Pakistan, Jemen oder Somalia.
Ja. Wenn der Präsident meint, man müsste jemanden töten, dann töten sie ihn – und alle anderen, die zufälligerweise um ihn herum stehen. Das ist ein Verstoß gegen die Grundlagen des angloamerikanischen Rechtes und das, was man die Unschuldsvermutung nennt. Man kann jemanden nur dann bestrafen, wenn er vor Gericht für schuldig befunden wurde. Das steht sogar in der US-Verfassung.
Die Obama-Regierung hat dagegen sehr deutlich gemacht, dass sie prinzipiell jeden töten kann. Als die Regierung einen amerikanischen Bürger, Anwar al-Awlaki, tötete, da sagte Obama, dies sei ein „einfacher Fall“ gewesen. Die Regierung erklärte sogar, er habe ein rechtsstaatliches Verfahren gehabt. Nun, rechtsstaatliches Verfahren bedeutet eigentlich Dinge wie das Prinzip, vor Gericht „von seinesgleichen“ gerichtet zu werden und so weiter. Die Regierung dagegen argumentierte, dass al-Awlaki ein rechtsstaatliches Verfahren gehabt habe, weil sie es innerhalb der Exekutive ausdiskutiert hätten.
Und die Unschuldsvermutung? Auch das hat einer von Obamas Sicherheitsberatern beantwortet. Er sagte, jeder, den wir töten, ist schuldig, solange im Nachhinein nicht seine Unschuld bewiesen werden kann. All das ist der Öffentlichkeit bekannt. Eine internationale Mordkampagne. Töte, wie es dir gefällt. Es ist billiger, als in ein Land einzumarschieren. Das hat uns in der Vergangenheit zu viel gekostet und hat sowieso nicht funktioniert.

Glauben Sie, dass alle politischen Führer generell immun gegen Ratschläge von außen sind?
Selbstverständlich. Es gibt Intellektuelle, die sich aufbauschen und vorgeben, einflussreich zu sein, Leute wie Bernard-Henri Lévy. Tatsächlich schenken politische Führer ihnen aber nicht die geringste Beachtung. Sie reagieren vielleicht, wenn es Massenbewegungen und substanziellen Aktivismus gibt.

Und deswegen richten Sie Ihre Botschaften nur an die allgemeine Bevölkerung.
Ja. Ich würde den Politikern ja nichts erzählen, was sie nicht sowieso schon wissen. Dass zum Beispiel Sparprogramme in Zeiten einer Rezession schädlich für die Wirtschaft sind, muss ich Angela Merkel doch nicht sagen. Das kann sie schon für sich selber herausfinden, wahrscheinlich hat sie das schon vor langer Zeit.