Wer Oberbürgermeister in Stuttgart werden möchte, ist in den nächsten Jahren schwer gefordert, sagt Politikexperte Frank Brettschneider.
30.04.2012 - 09:31 Uhr
Stuttgart – Alle etablierten Parteien haben ihre Kandidaten für die OB-Wahl in Stuttgart am 7. Oktober mittlerweile benannt. Und die Ausgangslage ist eine andere als noch vor einem Jahr, sagt der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim: „Der Ausgang der Wahl ist offen.“
Herr Brettschneider, die großen Parteien haben sich auf ihre Kandidaten für die OB-Wahl festgelegt. Haben Sie für sich schon einen Favoriten oder eine Favoritin?
Nein. Die Kandidaten hatten ja bisher erst wenig Gelegenheit, ihre kommunalpolitischen Vorstellungen zu konkretisieren. Das sollten wir mal abwarten. Der Wahlkampf steht ja erst am Anfang. Meinungen bilden sich erst noch.
Ein Politprofi mit Unternehmergeist, sozialer Ader, weiblichem Charme – wär’s das, wenn die Attribute nicht auf die drei Bewerber verteilt wären?
Es geht bei der OB-Wahl ohne Zweifel stark um Personen. Und da scheinen die Stuttgarter ja immerhin die Auswahl zwischen sehr unterschiedlichen Charakteren und Profilen zu haben. Allerdings: Charme ist nicht das Wichtigste.
Was erwarten die Bürger denn von ihrem künftigen Oberbürgermeister?
Der ideale Oberbürgermeister muss vor allem eines sein: vertrauenswürdig. Dies gilt unabhängig von der Partei, der Menschen zuneigen. Außerdem hat er ein gutes Konzept für die Zukunft Stuttgarts, Charakter, ist tatkräftig und unabhängig. Auch Bürgernähe ist gefragt.
Welchen Eindruck haben Sie als aufmerksamer politischer Beobachter denn von den Bewerbern der großen Parteien?
Die drei stehen für unterschiedliche Themen. Bettina Wilhelm versucht mit dem Thema Familie und Kinderbetreuung zu punkten, hat als Frau natürlich ein Alleinstellungsmerkmal – aber auch das Manko eines geringen Bekanntheitsgrades. Fritz Kuhn hat einen klangvollen Namen in der Politik und steht für klassisch-grüne Themen wie die Energiewende. Sebastian Turner streicht seine Wirtschaftskompetenz heraus und stellt die Idee einer Bürgerstadt in den Mittelpunkt. Das müssen alle Kandidaten jetzt mit Leben füllen.
Auffällig ist, dass zwei der drei Kandidaten zwar im Namen von Parteien antreten, selbst aber nicht Mitglied sind. Ist das ein Vorteil?
Parteilosigkeit ist nicht per se gut oder schlecht. Im konkreten Fall ist es sicher eine Reaktion der Parteien auf die Auseinandersetzungen rund um Stuttgart 21 – verbunden mit der Hoffnung, dass sich ein parteiloser Bewerber als Brückenbauer in der Stadt leichter tut. Aber so etwas kann auch jemand leisten, der parteipolitisch verankert ist.
Wird Stuttgart 21 für den Wahlausgang denn eine entscheidende Rolle spielen?
Unsere jüngsten Befragungen zeigen, dass Stuttgart 21 deutlich an Bedeutung verloren hat. Themen wie Schulpolitik, bezahlbarer Wohnraum, Wirtschaft stehen für die Stuttgarter inzwischen wieder im Vordergrund. Dennoch wird die Debatte über Stuttgart 21 den Wahlausgang beeinflussen. Den größten Nachteil haben dabei im Moment wohl die Grünen. Sie haben bei einem Teil der Gegner des Projekts und damit ihren ureigenen Anhängern an Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Dabei ist die Baustelle Bahnhof ja nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht die Zukunftsfrage, was auf den frei werdenden Gleisen entstehen soll.
Ja, die Entwicklung der 100 Hektar großen Brachfläche wird eines der beherrschen kommunalpolitischen Themen der nächsten Jahre sein. Deshalb wollen die Bürger von den Kandidaten hören, was dort geschehen soll und vor allem auch wie es geschehen soll – also inwieweit die Bürger in diese Planungen mit einbezogen werden. Da gibt es auch deutliche Erwartungen, sich für neue Politikansätze zu öffnen.
Wagen Sie eine Prognose im Blick auf den Wahlausgang?
Da muss ich passen. Das ist rund ein halbes Jahr vor der Wahl noch viel zu früh. Nur eines ist sicher: die politische Gemengelage in Stuttgart hat sich in den vergangenen Monaten erheblich verändert. Die Phase, in der den Grünen der Wahlsieg sicher schien, ist vorbei. Der Ausgang der Wahl ist offen. Jetzt müssen die Kandidaten ihre Anhänger mobilisieren und die vielen unabhängigen Wähler überzeugen.
Die stärkste Fraktion sind mittlerweile oftmals die Nichtwähler. Entscheiden sie am Ende auch die OB-Wahl in Stuttgart?
Klar, auch von der Wahlbeteiligung hängt der Ausgang des ersten Wahlganges ab. Mehr als die Hälfte der Wähler hat sich noch nicht festgelegt, ob und gegebenenfalls wo sie am 7. Oktober ihr Kreuz machen. Bei einigen von ihnen gibt es ein überdurchschnittlich große Misstrauen gegenüber der etablierten Politik. Vor allem aber sind die Unentschiedenen keine homogene Gruppe: Es gibt einen Teil, der CDU-nahen Themen wie der Wirtschaftsförderung und der Bekämpfung der Kriminalität Priorität einräumt. Und einen anderen Teil, dem grüne Themen wie die Energie- und Wasserversorgung besonders wichtig sind.
Ist es in einer Großstadt nicht besonders schwer, die Bürger mit politischen Themen und einer OB-Wahl zu erreichen?
Das ist in der Tat sehr viel komplizierter geworden. Viele wählen nicht mehr nach „Parteibuch“, sondern wollen stets auf Neue überzeugt werden. Das ist durchaus zu begrüßen. Es stellt aber auch besondere Anforderungen an die Kommunikation der Kandidaten. Es genügt nicht mehr, sich auf klassische Wahlkampfinstrumente wie Infostände oder Podiumsdiskussionen zu verlassen. Gerade um in einer Großstadt wie Stuttgart mit insgesamt 23 sehr unterschiedlichen Stadtbezirken möglichst viele Menschen zu erreichen, müssen die Kandidaten alle Kommunikationsmöglichkeiten ausschöpfen. Dazu zählt auch eine starke Verankerung in den sozialen Netzwerken des Web 2.0 – etwa in Facebook. Das kostet Geld und viel Zeit. Wahlkampf heißt: voller Einsatz. Am besten 24 Stunden pro Tag an sieben Tagen in der Woche.