Zu Ihrem Beruf gehört es, persönliche Befindlichkeiten außen vor zu lassen. Aber kann einem der objektive Blick tatsächlich immer gelingen?
Ein pensionierter Kollege sagte mal: Ein Richter darf ruhig Vorurteile haben, er muss sich ihrer nur bewusst sein. Das ist der springende Punkt: Was man sich bewusstmacht, kann man auch steuern. Es ist ein schwieriger Balanceakt, einerseits Distanz zu wahren und sich andererseits gefühlsmäßig einzulassen, um den Opfern und Angehörigen gerecht zu werden.

Inwieweit kann man sich denn überhaupt in die Betroffenen hineinversetzen?
Manches, was einer fühlt, der ein schlimmes, grausames Schicksal erlebt hat, kann man nicht verstehen. Nehmen wir noch mal den Fall Yvan. Die Rechtsmediziner haben Fotos von der Leiche und der Obduktion gemacht. Wir haben darauf verzichtet, die in Augenschein zu nehmen, um die Angehörigen und alle Beteiligten zu schonen. Später haben wir aus dem Buch, das die Eltern nach dem Prozess geschrieben haben, erfahren, dass sie die Bilder gerne gezeigt hätten, um sie den Angeklagten nochmals vor Augen zu führen.

Man kann nicht allen alles recht machen.
Das ist schier nicht möglich. Und dann hätten wir auch was falsch gemacht. Die Erwartungen der Öffentlichkeit und der Medien sind in der Regel viel zu hoch. Ein Strafverfahren ist eine ganz einfache Sache: Es gibt einen Anklagevorwurf, und in der Hauptverhandlung muss man alles machen, um den nachzuweisen oder nicht. Aber oft wird alles Mögliche da hineininterpretiert: von der historischen Aufarbeitung bis hin zur beginnenden Therapie.

Wie das beim Prozess gegen den Vater des Amokläufers von Winnenden in Teilen der Fall war – mit 40 Nebenklägern.
Man muss Rücksicht nehmen, ganz klar, und wenn es den Menschen hilft, erfüllt das auch einen Zweck.

Gab es mal einen Fall, den Sie lieber nicht angenommen hätten?
Das gab es immer wieder. Wenn Sie einen geständigen Bankräuber haben, den Sie an einem Tag verhandelt haben, ist das natürlich einfacher als eine hochkomplizierte Materie.