Kultur: Stefan Kister (kir)

Im Falle des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik streiten die Gutachter über das Maß an Freiheit und Verantwortlichkeit, das seinen Taten zugrunde liegt.
Freiheit ist kein Gegenstand einer wissenschaftlich objektivierbaren Erfahrung, sondern etwas, dessen wir uns unmittelbar bewusst sind. Psychiater haben für den Begriff keinen Platz. Sie können nur untersuchen, ob Merkmale vorliegen, die nach unserem Selbstverständnis auf Unzurechnungsfähigkeit hindeuten. Die Neurophilosophen halten alle Menschen für unzurechnungsfähig – außer sich selbst. Die letzte Entscheidung, ob ein Mensch bei seinem Handeln frei war oder nicht, muss der Richter mittels des gesunden Menschenverstandes fällen, die Kenntnisnahme psychiatrischer Gutachten kann dabei helfen.

Was sagen Sie: Gefängnis oder Psychiatrie?
Einen Menschen, der so rational argumentiert, wenn auch aufgrund völlig unsinniger Prämissen, der ohne jede Achtung vor der Würde eines anderen Menschen handelt, sollte man einsperren. Da hat es wenig Sinn zu fragen, ob er etwas dafür kann oder nicht. Es gibt gar keinen Ansatzpunkt. Er würde alles wieder tun. Sein Satz „uns ist alles erlaubt“, ist ganz fürchterlich. Es ist übrigens ein Lenin-Zitat.

Sie waren selbst einmal Marxist.
Ich habe die marxistische Weltanschauung im Ganzen nicht geteilt, nur die Sozialanalyse und die Geschichtstheorie haben mich eine Weile überzeugt.

Einst haben Sie mit Heinrich Böll gegen die atomare Bewaffnung gekämpft, später aber für die Nachrüstung votiert.
Ich war und bin gegen die Existenz einer Waffe, deren Einsatz immer kriminell ist. Wenn sie aber einmal existiert, erhöht jede Asymmetrie der Verteilung die Gefahr der Anwendung.

Jetzt geht es um die Gefahr einer künftigen Atommacht Iran. Mit welchen Gefühlen haben Sie die Grass-Debatte verfolgt?
Der Iran, besäße er die Bombe, würde Israel aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit dieser Waffe angreifen, das würde ja die Palästinenser mit töten und das eigene Ende provozieren. Er will sich vielmehr gegen das Schicksal Libyens oder des Irak immunisieren und hat damit ein ähnliches Motiv wie die Atommacht Israel. Nun erkennt der Iran Israel nicht an. Aber Israel erkennt die Staatlichkeit der Palästinenser auch nur verbal an, baut aber in Gebieten, die ihnen gehören, mit der offensichtlichen Absicht, sie zu behalten. Ich sehe da eine starke Symmetrie. Diskurse darüber werden bei uns erschwert durch das Gebot der politischen Korrektheit. In den fünfziger Jahren war die Meinungsfreiheit größer als heute.

Man dürfe dies und das nicht sagen, ist eine beliebte rhetorische Immunisierungsfigur.
Das stimmt. Man spielt gerne eine Opferrolle. Auch wenn man behauptet, etwas nicht sagen zu dürfen, sagt man es ja. Trotzdem glaube ich, dass politische Korrektheit antiaufklärerisch wirkt. Manche Erkenntnisse gelten nicht als gesellschaftsfähig, weil man falsche Schlüsse aus ihnen ziehen könnte. Mein Kollege Hermann Lübbe hat Aufklärung einmal definiert als das Unabhängigwerden unserer Lebenspraxis von den Ergebnissen unserer Forschung. Forschung darf nicht mehr weltanschaulich beladen sein.

Ihr Ruf an die Universität Stuttgart hängt mit der politischen Unkorrektheit des damaligen Kopfes der „Stuttgarter Schule“, Max Bense, zusammen.
Es hieß, er habe Propaganda für Atheismus gemacht. Man richtete darauf einen ohnehin beabsichtigten Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik ein, der in einem normalen Berufungsverfahren mit mir besetzt wurde. Bense sah darin einen Affront und hat mir das zunächst übel genommen. Hinterher haben wir uns aber ganz gut miteinander arrangiert. Ich habe im Ministerium sofort darauf hingewirkt, dass Bense ebenfalls einen ordentlichen Lehrstuhl bekam. Später sprach er in einer Vorlesung über den Tyrannenmord und nannte ein Attentat auf den damaligen Papst Paul VI. als legitimes Beispiel. Darauf intervenierte wieder der Landtag. In diesem Fall wohl mit Recht: Atheismus muss man als Professor vertreten dürfen, das Umbringen bestimmter Leute steht auf einem anderen Blatt. Da bekam er kalte Füße und rief mich an: „Spaemann, wat soll ich denn machen? Ich brauch doch dat Jeld.“ Ich riet ihm dazu zu erklären, dass er sich im Beispiel vergriffen habe. Das tat er dann auch. Und damit war es gut.