Schiedsrichter Knut Kircher spricht im Interview vor seinem letzten Bundesligaspiel über falsche Pfiffe, den Videobeweis und seine Erlebnisse mit den Profis.

Rottenburg - – Herr Kircher, Sie pfeifen seit 15 Jahren in der Bundesliga, doch selten gab es so viele Fehlentscheidungen wie in dieser Saison. Sind die Schiedsrichter schwächer geworden?
Nein.
Also täuscht der Eindruck?
Noch ein Nein. Die Saison lief holprig, da gibt es nichts zu beschönigen. Doch das hat nichts mit der Struktur oder der Ausbildung oder dem Können zu tun.
Sondern?
In den Jahren, in denen ich dabei war, gab es immer ein Auf und Ab, selbst bei den Allerbesten wie Fandel, Merk oder Krug. Auch ich habe mir diese Saison ein paar vermeidbare Fehler geleistet. Dazu kommt: Jede einzelne Entscheidung des Schiedsrichters, egal ob richtig oder falsch, hat heute in der Öffentlichkeit eine ganz andere Wertigkeit als früher. Wenn ich ein vermeintliches Foul im Mittelfeld nicht pfeife und eine halbe Minute später fällt ein Tor, wird dies vor allem an meiner Entscheidung festgemacht, nicht an der Fehlerkette der Verteidiger. Und zuletzt gibt es ein paar Dinge, die passieren einfach, weil der Schiedsrichter mit seiner menschlichen Wahrnehmung an Grenzen stößt.
Zum Beispiel?
Mannschaften wie der FC Bayern oder Borussia Dortmund haben ein unglaublich sicheres Passspiel. Und den letzten Pass, der irgendwann in einem enorm hohen Tempo durchgesteckt wird, kann man kaum noch sehen, geschweige denn erahnen.
Wie würden Sie also die Leistungsstärke der aktuellen Schiedsrichter beurteilen?
Sie sind auf keinen Fall schlechter als ihre Vorgänger.
Und froh über technische Hilfsmittel?
Über die Torlinientechnologie auf jeden Fall, weil es eine klare Entscheidung – Tor oder nicht – in einer spielentscheidenden Szene gibt. Das hilft mir als Schiedsrichter.
Was ist mit dem Videobeweis?
Früher war ich mal Traditionalist . . .
. . . und heute?
Bin ich aufgeschlossen genug, um zu sagen: Lasst es uns probieren. Allerdings bin ich mir sicher, dass den Stammtischen trotz des Videobeweises der Stoff für Diskussionen nicht ausgehen wird.
Warum?
Weil sich die Erwartungshaltung, dass es dann keine Fehler mehr gibt, nicht erfüllen wird. Vor allem bei der Beurteilung von Foulspielen bleibt ein Graubereich. Der Videobeweis berücksichtigt zum Beispiel nicht, ob der Schiedsrichter bis dahin eine strenge oder eher eine großzügige Linie hatte. Dementsprechend unterschiedlich kann ein Zweikampf oft ausgelegt werden.
Hört sich an, als wären Sie ziemlich skeptisch.
Ich hatte diese Saison einen richtigen Bock drin, als ich im Spiel des FC Bayern gegen den FC Augsburg einen unberechtigten Elfmeter für die Münchner gepfiffen habe. Hätte ich danach den Videobeweis zur Verfügung gehabt, hätte ich den Elfmeter zurückgenommen. Um solche Böcke geht es. Und um die Hilfe bei Schwalben, die schwer zu sehen waren, bei einem Handspiel, das oft in Realzeit kaum zu erkennen ist, oder beim Einfädeln vor Elfmetern.
Aber?
Man muss aufpassen, dass es nicht zu viele Unterbrechungen gibt. Das würde die Idee des Spiels zerstören. Und es wird viele Szenen geben, die auch durch einen Videobeweis nicht klarer werden. Was ja andererseits auch gut ist – es wäre doch schlimm, wenn der Montagmorgen gleich mit harter Arbeit beginnen würde und nicht mehr mit Diskussionen über Fußball.
Kommt der Videobeweis nach der zweijährigen Testphase?
Davon gehe ich aus, auch wenn noch einige Dinge zu klären wären. Zum Beispiel müsste dem Schiedsrichter erst noch per Regeländerung erlaubt werden, ein laufendes Spiel zu unterbrechen, wenn er vom Assistenten den Hinweis bekommt, dass es jetzt sinnvoll wäre, den Videobeweis einzusetzen.
Für Diskussionen sorgte in der Rückrunde auch Roger Schmidt. Der Leverkusener Trainer weigerte sich, auf die Tribüne zu gehen, obwohl Felix Zwayer dies angeordnet hatte.
Daraufhin hat mein Kollege das Spiel unterbrochen und die Mannschaften in die Kabine geschickt. Regeltechnisch hat er absolut richtig gehandelt.
Musste diese Eskalation sein?
Ob ich es mit meiner Erfahrung genauso geregelt hätte, weiß ich nicht. Machtkämpfe auf offener Bühne wie zwischen Felix Zwayer und Roger Schmidt schaden dem Fußball. Denn es braucht dann immer einen Sieger, und das kann nur der Schiedsrichter sein.
Verhalten sich die Trainer heute anders als vor zehn oder 15 Jahren?
Grundsätzlich gilt: Trainer können einem Schiedsrichter das Leben schwer machen, deshalb bin ich heute noch Mirko Slomka und Torsten Lieberknecht dankbar. Ich habe einmal das hochbrisante Derby zwischen Hannover 96 und Eintracht Braunschweig gepfiffen, die beiden haben sich vorbildlich verhalten und extra zurückgenommen. So etwas erlebt man selten.
Was ist die Regel?
Auch früher gab es schon explosive Trainer wie Werner Lorant, Otto Rehhagel oder Michael Henke. Aber heute wird die psychologische Kriegsführung von der Trainerbank als taktisches Mittel viel ausgeprägter eingesetzt. Da wird das Spiel ganz bewusst befeuert. Und noch etwas fällt mir auf.
Bitte.
Manchmal ist es schwierig, in 90 Minuten Zugang zu einem Menschen zu finden. Und solche Typen gibt es aktuell unter den Bundesliga-Trainern häufiger anzutreffen. Sie scheinen gerade besonders gefragt zu sein.
Wer gehört in diese Reihe?
Ich nenne keinen Namen. Jeder, der sich in der Bundesliga auskennt, weiß schon, wen ich meinen könnte.
Was bedeutet das für die Schiedsrichter?
Dass sie ihre Verhaltensmuster anpassen müssen. Vielleicht hilft es ja, die Trainer, die so auftreten, auch mal öfter zu ignorieren. Das ist übrigens auch ein Dilemma für die vierten Offiziellen am Spielfeldrand. Einerseits stehen sie nicht dort, um sich von Trainern anschreien zu lassen. Und andererseits können sie sich auch nicht auf die Seite eines Trainers schlagen, nur damit er Ruhe gibt. Es muss doch eigentlich darum gehen, ein Miteinander hinzubekommen.
Bibiana Steinhaus ist sehr oft als vierte Offizielle im Einsatz . . .
. . . und das aus gutem Grund: Sie wirkt trotz oder gerade wegen ihrer klaren Ansagen sehr deeskalierend. Jeder Kollege, der sie an der Seite hat, fährt damit sehr gut.
Wann wird es die erste Schiedsrichterin in der Bundesliga geben?
Wenn die erste Frau alle Anforderungen erfüllt und die Leistung zeigt, die auch die Männer zeigen. Es darf keinen Proporz geben, damit tut man niemand einen Gefallen.
Was ist mit Bibiana Steinhaus?
Sie pfeift seit neun Jahren in der zweiten Liga und hat fraglos eine sehr hohe Qualität, doch bisher war ihr das Glück im Gesamtpaket am Ende einer Saison eben noch nicht hold genug für den Sprung nach oben. Ich würde ihr wünschen, dass es klappt.
In der Schiedsrichterszene dominieren Männer. Wird der Aufstieg von Bibiana Steinhaus bewusst verhindert?
Dafür sehe ich keinerlei Anzeichen.
Wie fing eigentlich Ihre Karriere an?
Mein erstes Spiel habe ich in der Saison 2001/02 gepfiffen – TSV 1860 München gegen den 1. FC Nürnberg. Es war warm, und mir war’s noch wärmer. Aber es war auch ein tolles Erlebnis, mittendrin zu sein. Das hat richtig Bock auf mehr gemacht.
Ihr erster Auftritt mit Folgen?
War 2004 in Mönchengladbach. Ich habe auf Ansage meines Assistenten dem Bayern-Spieler Lucio wegen Nachtretens die Rote Karte gezeigt. Nach dem Spiel kam Uli Hoeneß in meine Kabine. Er war, sagen wir mal, ein bisschen zu emotionalisiert.
Welches Spiel werden Sie nie vergessen?
Im Februar 2009 war Tabellenführer Hertha BSC zu Gast beim VfL Wolfsburg. Ich habe erst ein reguläres Tor der Berliner nicht gegeben und dann fünf Minuten vor dem Ende den irregulären Treffer der Wolfsburger zum 2:1-Sieg anerkannt. Das war nicht schön – weder beim Abgang vom Spielfeld noch in der medialen Berichterstattung.
Wer waren die angenehmsten Spieler, denen Sie auf dem Feld begegnet sind?
Ich reibe mich gerne an den echten Typen. Früher waren das Mario Basler, Stefan Effenberg oder Michael Ballack, heute sind es Thomas Müller, Arjen Robben und viele andere. Spieler mit Kanten und Eigenarten finde ich besser als aalglatte Typen, bei denen man nicht weiß, woran man ist.
Stimmt es, dass Sie mit Mehmet Scholl ein ungewöhnliches Erlebnis hatten?
Ja (lacht). Er kam einmal bei einem Spiel des FC Bayern in der zweiten Hälfte zu mir und meinte, er hätte am nächsten Wochenende einen wichtigen privaten Termin und bräuchte noch eine Gelbe Karte, um dann gesperrt zu sein.
Hat er sie bekommen?
Ja, aber er hat sich die Gelbe Karte mit einem Foul auch wirklich verdient.
Was haben Sie sonst noch Kurioses erlebt?
Viele Dinge, die nicht für die Öffentlichkeit sind. Aber neben Äußerungen wie „Schiri, pfeif’ endlich ab, wir kriegen heute eh nichts mehr hin“ denke ich vor allem an einen früheren Torwart. Er hat zwei Minuten vor dem Ende ewig lange für einen Abschlag gebraucht, also bin ich zu ihm hingelaufen. Er sagte dann, die Familienplanung stehe an, so dass er dringend nach Hause müsse. Also habe ich das Spiel pünktlich beendet.
In der Rückrunde kam es in Mode, sich rechtzeitig vor dem Spiel gegen den FC Bayern die letzte Gelbe Karte für eine Sperre abzuholen.
So etwas hat unter dem Aspekt der Fairness und der Wettbewerbsverzerrung im Fußball nichts zu suchen. Aber wir Schiedsrichter sind da machtlos: Ein gelb-würdiges Vergehen ist ein gelb-würdiges Vergehen – egal ob es aus der Emotion, aus dem Frust heraus oder aus Taktik begangen wird.
Sie sind der Bundesliga-Schiedsrichter mit den wenigsten Platzverweisen – in 243 Spielen haben Sie nur acht Rote und neun Gelb-Rote Karten verteilt. Sind Sie zu nachsichtig?
Vielleicht gelingt es mir einfach auch nur, in einem emotionalen Spannungsfeld mit Menschen positiv in eine Kommunikation einzutreten und sie damit von Blödsinn abzuhalten (lächelt). Im Ernst: Man muss sich auf dem Feld Respekt erarbeiten, indem man mit den Spielern spricht und auch sie respektiert. Das gelingt mir offenbar. Ein Schiedsrichter muss authentisch sein, er darf keine Rolle spielen – sonst wird er schnell entlarvt. Sicher habe aber auch ich manche Situation etwas falsch eingeordnet und bin im Zweifel bei der geringeren Strafe, also der Gelben Karte, gelandet.
Das Spiel wird immer schneller, die Zweikämpfe werden härter. Ist der Fußball auch unfairer geworden?
Ich registriere schon einige negative Strömungen.
Welche?
Die Profis nehmen immer weniger Rücksicht darauf, ob sich ein Gegenspieler verletzen könnte – zum Beispiel bei der Unart, ihm auf den Fuß zu treten. Dann ist die Theatralik schlimmer geworden. Früher wälzte sich niemand mit den Händen vor dem Gesicht auf dem Boden, nachdem er zuvor an der Brust berührt worden ist. Und auch das Lamentieren wird immer mehr. Es ist erschreckend, dass heute Entscheidungen einfach nicht mehr akzeptiert werden. Allerdings sind daran auch wir Schiedsrichter beteiligt: Wir haben das einreißen lassen.
An diesem Samstag pfeifen Sie Ihr letztes Spiel. Was kommt nach dem Abpfiff?
Ich werde sicher die eine oder andere Träne verdrücken.
Sie gehen mit Wehmut?
Nein. Es war eine tolle Zeit, aber ich bin mit mir im Reinen und konnte mich auf das Ende vorbereiten.
Mit spätestens 47 Jahren ist in der Bundesliga Schluss. Hadern Sie mit der Altersgrenze?
Wieso? Einerseits habe ich nun viel Erfahrung, die Akzeptanz und das Vertrauen der Spieler ist so hoch wie nie. Aber andererseits reicht es jetzt auch mal. Und als ich ein junger Schiedsrichter war, bin auch froh gewesen, irgendwann nachrücken zu können. In Deutschland gibt es viele tolle Talente und sicher keine Nachwuchssorgen. An uns Älteren liegt es jetzt, unsere Erfahrungen weiterzugeben.
Was haben Sie in Ihrer Zeit als Schiedsrichter gelernt?
Dass man sich auf Neues und Unbekanntes einlassen muss, um sich persönlich weiterzuentwickeln. Im Sport, aber auch im normalen Leben. Grenzen sind verschiebbar!