Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Auch auf die Gefahr hin, dass das Volk die Zustimmung verweigert?

 

Das Risiko besteht natürlich. Aber alle Umfragen zeigen doch, dass die Menschen nicht gegen Europa sind. Sie sind skeptisch, ob Europa in seiner gegenwärtigen Verfassung gut aufgestellt ist. Und für diese Skepsis gibt es ja gute Gründe. Europa als Eliteprojekt, in dem nur ganz wenige entscheiden, ist an seine Grenzen gestoßen.

Die französischen Sozialisten lassen gerade ihren Präsidentschaftskandidaten durch eine Wahl bestimmen, an der sich auch Nicht-Mitglieder der Partei beteiligen. Werden Sie angesichts dieser Experimentierfreunde neidisch, wenn sie das mit den eigenen Genossen vergleichen?

Ich habe immer darauf hingewiesen, dass die französischen Sozialisten da ein schönes Vorbild sind - mit einer Einschränkung: Die Franzosen sind es wie die Amerikaner gewohnt, dass in den Parteien mehrere Bewerber offen um die Spitzenkandidatur konkurrieren. Das ist in den deutschen Volksparteien in der Regel nicht so.

Sie als SPD-Chef verweisen doch immer stolz darauf, dass mit Steinmeier, Steinbrück und Gabriel gleich drei genannt werden, die das Zeug zum Kanzlerkandidaten haben. Da böte sich doch eine Vorwahl an.

Sie selbst bezeichnen die SPD als "Infrastrukturpartei" und fordern die Grünen auf, sich beim Bau von Autobahnen, Stromtrassen und Bahnhöfen nicht ständig quer zu legen. Gilt diese Aufforderung auch für den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann und Stuttgart 21?

Die SPD ist seit fast 150 Jahren eine Infrastrukturpartei, weil wir wissen, dass sich nicht jeder alles leisten kann: weil sich nicht jeder eine Privatschule leisten kann, sind wir für eine öffentliche Infrastruktur für Bildung. Weil die Krankenversorgung privat für die allermeisten zu teuer ist, sind wir für eine öffentliche Gesundheitsversorgung und eine gemeinsame Krankenkasse. Und weil viele Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind und das zudem umweltfreundlich ist, sind wir auch für eine gute öffentliche Verkehrsinfrastruktur. Nicht zuletzt brauchen Industrie, Handwerk, Handel eine gute wirtschaftliche Infrastruktur mit Stromleitungen, Verkehrswegen und Rohstoffpipelines. Das alles bringt auch Belastungen und Risiken hervor, die man bewerten und abwägen muss. Nicht jede Belastung ist durch wirtschaftlichen Erfolg gerechtfertigt. Aber so zu tun, als ob niemand eine Belastung in Kauf nehmen müsste, ist auch eine Illusion.

Also sollen die Grünen ihren Widerstand gegen S21 aufgeben?

Wir hatten hier eine total verfahrene Situation, deren Ursachen in der Zeit vor Grün-Rot liegen. Bei Grünen und SPD gibt es unterschiedliche Positionen zu diesem Projekt. Zum Glück hat sich die Idee durchgesetzt, dass wir eine Volksabstimmung brauchen. Ich erinnere mich noch gut, wie die SPD für diesen Vorschlag verlacht wurde. Jetzt dürfte Herr Kretschmann heilfroh sein, dass es dieses Verfahren gibt.

Wie stabil kann eine Koalition sein, in der zwei Partner vor einer Volksabstimmung offen Wahlkampf gegeneinander machen?

Das kann natürlich kein Dauerzustand sein, das ist ja auch allen klar. Mein Eindruck ist, dass die Beteiligten hier fair miteinander umgehen.

Sie selbst propagieren die Idee, plebiszitäre Elemente auszubauen. Ist die S21-Abstimmung dafür ein gutes Beispiel?

Sicher nicht, denn sie ist ja nur eine Notlösung in einem ansonsten unlösbaren Konflikt. Ganz generell gilt aber: das Volk sollte über Gesetze abstimmen. Allerdings hat Stuttgart 21 gezeigt, dass die Voraussetzungen für Transparenz und Überprüfung dieses Projektes nicht in ausreichendem Maße gegeben waren.

Weniges bewegt die Menschen mehr als der Euro und die Milliarden-Hilfe für überschuldete Staaten. Empfehlen Sie auch hier, das Volk votieren zu lassen?

Man kann nicht mitten in einer Krise große Volksabstimmungen durchführen, in denen es um das akute Krisenmanagement geht. In der Euro-Krise erleben wir doch gerade, dass Lösungen, die vor einem Jahr noch richtig gewesen wären, nun großen Schaden anrichten können. Wir haben jetzt nur noch die Wahl zwischen schlechten und ganz schlechten Lösungen. Das ist das Ergebnis des Zauderns von Angela Merkel und ihrer konservativen Freunde in Europa.

Die deutsche Kanzlerin und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy wollen eine europäische Wirtschaftsregierung installieren, in der die Staats- und Regierungschefs das Sagen haben. Kann das funktionieren?

Wir brauchen erst mal eine neue Wirtschafts- und Finanzpolitik, die nicht mehr den Freiheit der Märkte huldigt, sondern das Wohl der Völker im Blick hat - und das zunächst mal durch verbesserte Kooperation der europäischen Staaten. Erst dann sollte man über neue Institutionen reden. Ich plädiere für grundlegende Reformen der EU. Das kann fünf oder zehn Jahre dauern. Und am Ende dieses Prozesses wird man dann die Menschen in Europa fragen müssen, ob sie damit einverstanden sind.

"Die französischen Sozialisten sind ein schönes Vorbild"

Auch auf die Gefahr hin, dass das Volk die Zustimmung verweigert?

Das Risiko besteht natürlich. Aber alle Umfragen zeigen doch, dass die Menschen nicht gegen Europa sind. Sie sind skeptisch, ob Europa in seiner gegenwärtigen Verfassung gut aufgestellt ist. Und für diese Skepsis gibt es ja gute Gründe. Europa als Eliteprojekt, in dem nur ganz wenige entscheiden, ist an seine Grenzen gestoßen.

Die französischen Sozialisten lassen gerade ihren Präsidentschaftskandidaten durch eine Wahl bestimmen, an der sich auch Nicht-Mitglieder der Partei beteiligen. Werden Sie angesichts dieser Experimentierfreunde neidisch, wenn sie das mit den eigenen Genossen vergleichen?

Ich habe immer darauf hingewiesen, dass die französischen Sozialisten da ein schönes Vorbild sind - mit einer Einschränkung: Die Franzosen sind es wie die Amerikaner gewohnt, dass in den Parteien mehrere Bewerber offen um die Spitzenkandidatur konkurrieren. Das ist in den deutschen Volksparteien in der Regel nicht so.

Sie als SPD-Chef verweisen doch immer stolz darauf, dass mit Steinmeier, Steinbrück und Gabriel gleich drei genannt werden, die das Zeug zum Kanzlerkandidaten haben. Da böte sich doch eine Vorwahl an.

Wenn es Ende 2012 mehr als einen gibt, der die Kanzlerkandidatur anstrebt, werden wir mindestens mal unsere Mitglieder fragen. Warten wir mal ab, ob es dazu kommt.

Wahrscheinlicher ist doch, dass sie mit Steinmeier und Steinbrück in ein stilles Kämmerlein gehen und das unter sich ausmachen.

Olaf Scholz hat vor kurzem gesagt: Am Ende liegen in Deutschland solche Kandidaturen in der Luft. Da ist viel Wahres dran.

Und wer entscheidet, wonach es duftet?

Jedenfalls wird der SPD-Vorsitzende einen Vorschlag machen. Der Vorsitzende einer Volkspartei muss immer den Anspruch haben, dass er der Kanzlerkandidat sein kann. Aber er muss souverän genug sein zu verzichten, wenn ein anderer die besseren Chancen hat. Beides traue ich mir zu.

Mit der Piratenpartei ist der SPD ein neuer Konkurrent erwachsen. Für viele Wähler sind die Piraten attraktiv, weil sie einen offeneren Stil in der Politik einfordern und vorleben. Ist das auch für sie vorbildlich?

Der Erfolg der Piratenpartei ist eine deutliche Aufforderung an die anderen Parteien, ihren Politikstil zu ändern. Mehr Transparenz und weniger Hierarchie sind da die Stichworte. Eines sollten wir allerdings von den Piraten nicht lernen: der Sehnsucht nach einfachen, rigorosen Lösungen nachzugeben. Das Leben ist nicht schwarz und weiß, richtig und falsch. Es geht in der Politik immer um Kompromisse im Sinne des Gemeinwohls.

Die Piraten kommen in bundesweiten Umfragen auf bis zu neun Prozent. Schaffen sie dieses Ergebnis auch bei der Bundestagswahl 2013, zerplatzen wohl die rot-grünen Träume auf eine traute Zweierkoalition ...

Ich habe in den letzten Jahren so viele Prognosen über die Entwicklung von Parteien gehört, die nicht eingetroffen sind, dass ich das mal in Ruhe abwarte.

Die Piraten erklären allerdings schon selbstbewusst: wir wollen in die Regierung. Würde die SPD sie mit hinein nehmen?

Die Piraten in Berlin machen gegenwärtig nicht den Eindruck, dass sie schon regierungswillig und -fähig wären.

Parteireformer

Vorsitz: Der ehemalige niedersächsiche Ministerpräsident und Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (52) führt die SPD seit dem November 2009. Er folgte auf Franz Müntefering.

Umbau: Zur Zeit tourt Gabriel durch die Republik, um in der SPD für seine Parteireform zu werben. Die sieht unter anderem eine verstärkte Beteiligung der Parteimitglieder in Sach- und Personalfragen vor. So sollen Mitgliederbegehren und -entscheide erleichtert werden. Nichtmitglieder sollen über volle Beteiligungsrechte an parteiinternen Arbeitsgemeinschaften verstärkt eingebunden werden.