Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung wirft SPD-Chef Sigmar Gabriel den Unionspolitikern Horst Seehofer, Guido Wolf und Julia Klöckner vor, der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Rücken zu fallen.

Stuttgart – - Für seinen Vorschlag, angesichts der hohen Integrationskosten für die Flüchtlinge ein „Solidaritätsprojekt“ für die einheimische Bevölkerung in Deutschland aufzulegen, ist Sigmar Gabriel heftig attackiert worden. Im Interview wirft der SPD-Vorsitzende seinen Kritikern vor, die Stimmung im Lande zu verkennen.
Herr Gabriel, weil die Balkanroute dicht gemacht wird, kommen seit Tagen kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland. Sind Sie erfreut über diese Entwicklung?
Über die Bilder des Elends, die uns aus Mazedonien erreichen, kann man sich nicht freuen. Es hilft nicht weiter, in Europa einzelne Grenzen dicht zu machen. Und es ist eine Schande für Europa, dass wir bisher nicht in der Lage sind, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik hinzubekommen.
Aber es nimmt doch erheblichen Druck von der Bundesregierung, selbst zu solch drastischen Maßnahmen greifen zu müssen?
Manche glauben ja tatsächlich, die Länder entlang der Balkanroute würden jetzt den schmutzigen Job für uns Deutsche machen. So etwas kann aber nur der behaupten, der unterschätzt, wie schnell sich die Flüchtlinge andere Routen suchen.
Aber fühlen sich Politiker wie Ungarns Ministerpräsident Orban jetzt nicht bestätigt, die sagen: Hätten wir frühzeitig Grenzen dicht gemacht, wäre das alles nicht passiert?
Meine bittere Befürchtung ist, dass eine solche Haltung nur dazu führt, dass das Mittelmeer im Sommer wieder zur gefährlichen Fluchtroute und zum Friedhof wird. Es muss außerdem allen europäischen Staaten klar sein, dass sie bei veränderten Fluchtrouten und der Schließung nationaler Grenzen das gleiche Schicksal ereilen kann wie derzeit Griechenland.
Glauben Sie, dass Sie Leute wie Orban davon überzeugen können?
Ich setze seit Längerem nicht mehr darauf, dass wir alle in Europa überzeugen. Aber ich habe schon die Hoffnung, dass mehr Mitgliedstaaten erkennen, dass es keinen Sinn macht, irgendwo neue Grenzen zu ziehen und am nächsten Tag zu sehen, dass ein anderes Land in Schwierigkeiten gerät. Es gibt deshalb keine vernünftige Alternative zu dem Dreischritt, den wir anstreben: Hilfe für die Nachbarländer Syriens bei der Versorgung der Flüchtlinge, Sicherung der Außengrenze gemeinsam mit der Türkei samt Rückübernahmeabkommen und feste, große Kontingente für Flüchtlinge, die aus der Türkei und aus dem Libanon und aus Jordanien nach Europa kommen können.
Der bayrische Ministerpräsident Seehofer ist an diesem Freitag zu Gast bei Orban. Erleichtert er damit die Arbeit der Bundesregierung?
Vor allem erleichtert er ganz gewiss nicht die Arbeit der Bundeskanzlerin. Orban nutzt es aus, dass die eigene Parteifamilie der deutschen Kanzlerin jeden Tag in den Rücken fällt, denn Merkels Verhandlungsposition wird dadurch immer schwächer. Das werfe ich auch Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz und Guido Wolf in Baden-Württemberg vor, die mit ihren Querschüssen der Kanzlerin das Leben schwer machen. Die Situation ist paradox: Nur die SPD garantiert derzeit die Handlungsfähigkeit von Frau Merkel.
Was muss die Kanzlerin beim EU-Sondergipfel mit der Türkei am Montag erreichen?
Es ist wichtig, dass die Türkei ihre Zusagen zur Rücknahme der Flüchtlinge einhält. Die Türkei muss sich aber dann auch darauf verlassen können, dass sie jedes Jahr ein paar Hunderttausend Flüchtlinge auf legalem Weg nach Europa schicken kann. Denn sonst kann die Türkei den Migrationsdruck nicht verkraften.
Über welche Größenordnung reden wir?
Die sogenannte Koalition der Willigen hat von einer Zahl von 400 000 Flüchtlingen jährlich gesprochen, die auf jene europäischen Staaten verteilt würden, die mitmachen. Das ist die Größenordnung, über die wir sprechen müssen. Das klappt aber nicht, wenn am Ende, so wie beim ersten Versuch, nur Deutschland dazu bereit ist, solche Kontingente zu nehmen.