Der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit, Heiner Bielefeldt, hat heftige Kritik an den Kopftuchgesetzen einzelner Bundesländer geübt. Die Vorschriften ließen sich „langfristig nicht halten“, sagte Bielefeldt im Interview.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Stuttgart – - Eine zentrale Ursache des Terrors der Dschihadisten im Nordirak sei der Vertrauensverlust öffentlicher Institutionen vor Ort, betont Heiner Bielefeldt. Es gehe dort nicht einfach um einen Religionskrieg. Der UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit beklagt auch Defizite in Deutschland: Die Kopftuchgesetze einiger Bundesländer, die Lehrerinnen das Tragen des Kopftuches verwehren wollen, würden Muslima benachteiligen. Das sei ein fatales Signal. Eine ganze Generation junger Muslima werde vom Schuldienst ferngehalten. Langfristig sei dies nicht zu halten.
Heiner Bielefeldt Foto: dpa
Herr Bielefeldt, verzweifeln Sie angesichts des scheinbar wachensenden Terrors von Islamisten manchmal an Ihrer UN-Aufgabe, für die Religionsfreiheit zu streiten?
Überhaupt nicht. Ich fühle mich nicht einsam, verlassen oder depressiv, sondern erlebe in den verschiedenen Regionen Menschen, die mit bewundernswertem Einsatz sich für die Menschenrechte wie die Religionsfreiheit engagieren.
Ist der Eindruck, dass die Religionsfreiheit immer mehr unter die Räder kommt, richtig?
Der IS ist natürlich ein Beispiel für die schlimmsten Verletzungen der Religionsfreiheit. Daneben gibt es allerdings andernorts ebenfalls schwere Vergehen gegen die Glaubensfreiheit, von denen die Medien kaum Kenntnis nehmen. Ob es weltweit einen Trend zum Negativen gibt, kann ich nicht sicher sagen.
Die Verfolgung von Christen nähme zu, heißt es von Zeit zu Zeit.
Von der Gewalt im Irak oder in Syrien sind alle Konfessionen betroffen. Sie hat freilich ein völlig neues Ausmaß erreicht, insofern steigen auch die Zahlen der in Mitleidenschaft gezogenen Christen. Die Dramatik dieser Situation rechtfertigt den Begriff Verfolgung durchaus. Generell aber sollte man, mit dem Begriff Christenverfolgung vorsichtig sein.
Warum?
Das Wort Verfolgung bezeichnet eine sehr aggressive Form der Verweigerung von Religionsfreiheit. In vielen Fällen auf der Welt geht es aber eher um Diskriminierung oder Schikanierung. Zudem: nach meinem Wissen sind nirgendwo Christen allein bedroht, sondern auch andere Minderheiten wie die Jesiden, die Baha’i oder Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinde. Auch innerhalb der christlichen Gemeinschaft trifft es in der Regel nicht alle gleich hart. Besonders im Fokus ihrer Gegner sind oft diejenigen, die im Rufe stehen, missionieren zu wollen. Wenn wir an die Ermordung von Christen im Iran etwa denken, handelt es sich oft um Evangelikale oder Konvertiten vom Islam zum Christentum. Insgesamt lässt sich also sagen, dass der Begriff Christenverfolgung einerseits zu eng ist, weil er nichtchristliche Gruppen ausblendet und andererseits zu unspezifisch ist, weil er die Differenzen zwischen den verschiedenen christlichen Gruppen nicht berücksichtigt.
Terrorgruppen wie der IS oder Boko Haram in  Nigeria berufen sich auf den Islam und wecken so Ängste vor dieser Religion. Wie lässt sich diese Furcht mindern?
Man muss darauf hinweisen, dass die meisten Muslime genauso fassungslos vor dieser Form religiös verbrämter Gewalt stehen wie die Nicht-Muslime. Und man muss daran erinnern, dass derartige Verbrechen auch im Namen des Christentums verübt worden sind oder immer noch verübt werden. Die Lord Resistance Army in Uganda, die sich aufs Christentum beruft, veranstaltet ebenfalls Blutorgien. Brutal gehen auch christliche Milizen in Zentralafrika vor. Das sind ähnlich bizarr verdrehte Varianten des Christentums, wie das Kalifat des IS eine verdrehte Form des Islam ist. Der IS bringt außerdem auch Muslime um. Schon eine genaue Analyse der Gewaltorgien vor Ort kann also der Islamophobie vorbeugen.
Was ist die wesentliche Ursache für den Terror der Dschihadisten?
Die Ursachen sind komplex. Es geht nicht einfach um einen Religionskrieg. Eine wichtige Ursache sehe ich im Vertrauensverlust aller öffentlichen Institutionen in der Region. In der Folge entsteht ein politisches Klima der Hysterie. Die Menschen ziehen sich dann auf ihre eigenen, oft religiös definierten Netzwerke zurück. Sie betrachten die übrige Umwelt als feindlich. Unter diesen Bedingungen können apokalyptische, polarisierende Botschaften von Religionen Brutalität fördern. In manchen kaputten Gesellschaften greift diese Gewalt dann wie ein Bazillus um sich. Sie zieht Menschen an, die keine andere Möglichkeit für ihr Dasein sehen. Es entstehen Gewaltkarrieren. Der Hauptgrund für die Gewalt ist dann irgendwann die Gewalt.
Was meinen Sie damit?
Es geht nicht mehr um irgendwelche theologischen Unterschiede, etwa zwischen Sunniten und Schiiten, sondern um die Gewalterfahrung, wenn etwa Angehörige der eigenen Familie durch die Hand Andersgläubiger umgekommen sind. Diese Geschichten werden dann erzählt.
Das heißt, ein Ende des Terrors im Mittleren Osten ist kaum vorstellbar?
Es ist stets eine Herkulesaufgabe, Nationen wieder aufzubauen, Menschen aus der Gewaltspirale herauszuführen, den Hass zu überwinden, traumatisierte Personen für den Neustart zu gewinnen. Das dauert oft eine Generation, ist aber kein völlig hoffnungsloses Unterfangen. Das zeigt das Beispiel Sierra Leone. Dort ist nach langem Bürgerkrieg die Versöhnung nicht zuletzt deshalb gelungen, weil schonungslos die Menschenrechtsverletzungen aufgearbeitet und zum Beispiel Rituale entwickelt wurden, Gewalttäter wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Überdies hat man das Versöhnungspotenzial der Religionen dort genutzt.
Ein Vorbild für Syrien und den Irak?
Das Modell lässt sich gewiss nicht einfach übertragen. Doch es zeigt: man muss nicht dem Defätismus verfallen – trotz allem Schrecken. Es braucht allerdings die Nelson Mandelas dieser Welt, Menschen, die vor Ort die Kraft zur Versöhnung aufbringen. Nur von außen geht es nicht.
Ist der Islam wegen seiner Verbindung von Religion und Staatlichkeit besonders anfällig für Gewalt?
Der Islam erhebt einen sehr starken sozialen Gestaltungsanspruch, auch kondensiert im Begriff der Scharia. In vielen arabischen Ländern ist der Islam als Staatsreligion in der Verfassung verankert, stützen sich die Regime auf die Religion. Doch das liegt nicht in der Natur der Sache. In vielen islamisch geprägten Ländern gibt es eine eher laizistische Verfassung und zum Teil eine große Offenheit. Der erste Präsident des Senegal, ein Land mit 95 Prozent Muslimen, war zum Beispiel ein Katholik, der heute noch verehrt wird. Das heißt erst einmal, dass die Lage komplexer ist als gemeinhin gedacht. Zudem stehen die Dinge im Christentum nicht immer besser. Da müssen wir nur nach Russland schauen, wo Nationalismus und christliche Orthodoxie eine sehr enge Form der autoritären Partnerschaft eingehen. Man kann also nicht sagen, dass die Vermischung beider Sphären schlicht auf die theologischen Spezifika einer Religion zurückzuführen ist. Auch im Islam kann man säkulare Staatlichkeit anspruchsvoll begründen. Übrigens gibt es die Verbindung von autoritärem Nationalismus und Religion sogar im Buddhismus, etwa in Sri Lanka.
Es gibt keine unschuldige Religion?
Es gibt weder die unschuldige Religion noch gibt es den hoffnungslosen Fall.
Sind Forderungen, der Islam müsse endlich auch eine Aufklärung durchmachen, berechtigt?
Gesellschaften befinden sich in unterschiedlichen historischen Stadien. Niemand soll so tun, als hätten wir im Westen bestimmte Aufklärungsprozesse unwiderruflich hinter uns und die anderen lebten generell noch im Mittelalter. In Sierra Leone, Ghana und Senegal ist es zum Beispiel überhaupt kein Problem, vom Islam zum Christentum zu konvertieren.
Andernorts droht solchen Menschen die Todesstrafe.
Das sind schlimme Fälle. Wir dürfen sie aber nicht als repräsentativ für den Islam im Ganzen ansehen. Denn manche Muslime wehren sich auch gegen diese Praxis. Gerade solches Engagement über die Religionsgrenzen hinweg kann dazu beitragen, Ressentiments zu besiegen. Die Organisation Christian Solidary Worldwide hat sich gerade für verfolgte Atheisten eingesetzt. Die Baha’i-Repräsentantin in Genf hat gegen die neue Welle von Menschenrechtsverletzungen an Schiiten Stellung bezogen.
Wie kann die Welt religiös verbrämter Gewalt vorbeugen?
Es gibt einen Aktionsplan der UN zur Überwindung von religiösem Hass. Wir brauchen dazu ein Bündel von vertrauensbildenden Maßnahmen auf allen Ebenen. Dazu gehören auch kreative Bündnisse wie das jüngste Zusammengehen von Lutherischem Weltbund und der muslimischen Wohlfahrtsorganisation Islamic Relief in der Flüchtlingshilfe. Wir brauchen zudem mehr professionelle, präzise Berichterstattung in den Medien, die auch zur Versöhnung beitragen können. In Ruanda war eine Initiative segensreich für die Versöhnung, soap operas im Radio über ethnische Grenzen hinweg zu produzieren. Und wir brauchen Staaten mit Verfassungen, die religiösen Pluralismus Raum geben.
Gibt es in Deutschland da noch etwas zu verbessern?
Es gibt immer etwas zu verbessern. Wir brauchen zum Beispiel mehr professionellen Journalismus, der sich die Mühe macht, wirklich die Tatsachen zu recherchieren und nicht bloß Meinungsbildung zu betreiben. Das wird durch die Konkurrenz des Internets, wo sich jeder äußern und Propaganda betreiben kann, nicht leichter.
Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht?
Die Hauptherausforderung der Religionsfreiheit in Deutschland besteht vor allem darin, dass uns das gesellschaftliche Fundament einer ansonsten relativ gut entwickelten Rechtsprechung wegzubrechen droht. Das hat die Beschneidungsdebatte vor zwei Jahren gezeigt, als Religionskritik teils ätzend vorgebracht wurde. Es fehlt zum Teil am Respekt vor den religiösen Orientierungen anderer, und es fehlt an der ‚Anerkennung, dass der Glaube identitätsbildend sein kann. Staatlicherseits sind auch Flurbegradigungen nötig. Meines Erachtens werden sich die Kopftuchgesetze auf Länderebene langfristig nicht halten lassen. Es ist nicht sinnvoll, christliche Symbole rechtlich anders zu bewerten als muslimische. Eine ganze Generation von jüngeren Muslima auf diese Weise aus dem Schuldienst fernzuhalten, ist ein fatales Signal.
Die Situation religiöser Minderheiten ist in autoritären Staaten wie Saudi-Arabien aber viel schlimmer. Sind Sie dagegen hilflos?
In Saudi-Arabien sind wir in dieser Beziehung tatsächlich in einer Wüste. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben.