Verbraucherschützer ziehen eine ernüchternde Bilanz nach einem Jahr VW-Abgasskandal. Verbandschef Klaus Müller fordert im Interview, dass deutsche VW-Käufer ebenso wie die US-Kunden entschädigt werden.

Stuttgart - Ein Jahr nach der Aufdeckung des Abgasskandals bei VW zieht Klaus Müller, der Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, eine ernüchternde Bilanz. Müller fordert, dass auch die deutschen Kunden entschädigt werden und der Autoriese eine Garantie abgibt, damit die Verbraucher nach der Nachrüstung nicht auf möglichen Wertverlusten sitzenbleiben.

 
Herr Müller, in den USA zahlt VW den Autobesitzern viel Geld als Schadenersatz. In Deutschland wird dagegen nur nachgerüstet. Ist das fair?
Wer die Verbraucher getäuscht hat wie Volkswagen, muss seinen Kunden ein faires Angebot machen. Dabei darf der Konzern Verbraucher nicht in zwei Klassen einteilen. Deutsche und europäische VW-Kunden dürfen nicht leer ausgehen und auf ihrem Schaden und einem möglichen Wertverlust sitzen bleiben.
Eine Gleichbehandlung der Kunden diesseits und jenseits des Atlantiks würde VW wohl in die Pleite führen. Was sollte VW in dieser Zwickmühle tun?
VW hat sich diese Situation selber eingebrockt und muss jetzt die Konsequenzen der Abgasmanipulation tragen. Richtig ist aber auch, dass die Rechtssysteme zwischen den USA und Europa sehr unterschiedlich sind und deshalb eine Eins-zu-Eins-Übertragung aus verschiedenen Gründen unrealistisch ist. Aber die Nulllösung für deutsche VW Kunden ist inakzeptabel.
Die üppige Entschädigung der US-Kunden hängt damit zusammen, dass es dort Sammelklagen gibt. Haben wir in Deutschland rechtlichen Nachholbedarf?
Unser Verband setzt sich seit Längerem dafür ein, dass die Möglichkeit für ein Musterfeststellungsverfahren geschaffen wird. Das bedeutet, dass mit einer Klage einer Verbraucherschutzorganisation wie beispielsweise unserer stellvertretend für alle Geschädigten entschieden wird. Es ist doch nicht nachvollziehbar, dass jeder geschädigte VW-Kunde seine Rechte individuell gerichtlich durchfechten muss. Allein das finanzielle Risiko für einen Prozess gegen einen Konzern ist für viele viel zu hoch. Und es ist kostengünstiger für den Rechtsstaat. Für Aktienbesitzer kennt man ein vergleichbares Instrument schon.
Sie haben vor einiger Zeit gefordert, dass VW maximale Kulanz beim Rückruf zeigen soll und haben darüber auch Gespräche mit dem Konzern geführt. Was ist dabei herausgekommen?
VW weigert sich, eine freiwillige Garantie für alle Folgen der Umrüstung und auch für einen möglichen Wertverlust auszusprechen. Daher sollten betroffene Kunden auch nach einer Umrüstung prüfen, gegebenenfalls rechtliche Schritte einzuleiten. Wer jetzt ein neues Auto kaufen will, sollte sich vom Hersteller versichern lassen, dass das Fahrzeug auch auf der Straße alle gültigen Grenzwerte einhält. So wären Verbraucher zum Beispiel gegen zukünftige Fahrverbote für Dieselfahrzeuge abgesichert.
Welche Risiken sehen Sie für die deutschen Verbraucher nach der Nachbesserung der Fahrzeuge?
Die Sache ist leider noch lange nicht durchgestanden. Das ärgert mich sehr. Vor allem die Frage des Wertverlustes von Dieselfahrzeugen mit Schummelsoftware ist weiter ungeklärt. Schon jetzt gibt es Anzeichen dafür, dass betroffene Fahrzeuge weniger wert sind. Verbraucher dürfen damit nicht allein gelassen werden – hier muss Volkswagen seinen Kunden entgegen kommen.
Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf der Rückrufaktion?
Ein Jahr nach Beginn des Skandals ist erst für die Hälfte der betroffenen Fahrzeuge eine Nachrüstlösung genehmigt. Die von VW versprochene schnelle und unkomplizierte Lösung des Problems war also ein leeres Versprechen. Zudem hat VW Betroffene teilweise erst sehr spät informiert und den versprochenen Zeitplan für die Nachrüstung der verschiedenen Modelle mehrfach verschoben.
Die Betrügereien sind erst durch US-Behörden jedoch nicht durch das Kraftfahrtbundesamt aufgedeckt worden. Was läuft hier schief bei der Aufsicht über die Autohersteller. Wie könnten die Verbraucher von vornherein besser davor geschützt werden, dass solch ein Desaster passiert?
Die Typgenehmigung von Fahrzeugen in Europa ist für Verbraucher überhaupt nicht nachvollziehbar. Den Herstellern bietet sie viele Schlupflöcher. So darf zum Beispiel die Motorsteuerung, in der die Schummelsoftware von Volkswagen versteckt war, von den Prüfbehörden gar nicht untersucht werden. Wir haben in Europa kein wirkungsvolles System, um den Markt zu überwachen. Klar ist doch: Auch bereits verkaufte Fahrzeuge müssen die Zulassungsvorschriften einhalten und dahingehend überprüft werden. Hier ist die Bundesregierung in der Pflicht. Sie muss für mehr Wahrheit und Klarheit auf dem Automarkt sorgen. Ein neues Typgenehmigungsverfahren, das derzeit in Brüssel diskutiert wird, muss zeitnah und im Sinne der Verbraucher verabschiedet werden. Wir brauchen endlich Verlässlichkeit und Transparenz und das unter echten Straßenbedingungen, nicht im Labor.
Die EU-Kommissarin Vera Jourova will nun auf europäischer Ebene einen Vorstoß unternehmen, um VW unter Druck zu setzen. Was kann das den Verbrauchern bringen?
Wenn Verbraucherinteressen europaweit gebündelt werden, kann so natürlich der politische und rechtliche Druck erhöht werden. Europäische Verbraucher bekommen auf diese Weise hoffentlich das Gewicht, das sie verdienen. Volkswagen muss seinen Kunden jetzt entgegenkommen und über die eigentliche Nachrüstung hinaus entschädigen.